Freitag, 7. Dezember 2012

Manchester


Stumme Gesellen

Mit Vorliebe entvölkert der Dichter die Städte und Orte, die er auf- oder besser heimsucht. Prag etwa taucht er in ein viel zu helles Licht, so daß die Menschen so krank und grau aus sehen, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher. Bald werden sie uns nicht mehr zur Last fallen. In Terezín sehen wir nur verschlossene Türen und so gut wie keinen Menschen. Die englische Großstadt Manchester ist kaum dichter besiedelt als die böhmische Ortschaft.

Schon das von Zürich Kloten her anfliegende Flugzeug ist so gut wie leer, die wenigen Insassen verlaufen sich gleich nach der Landung und werden nicht wieder gesehen. Die Fahrt im Taxi führt durch möglicherweise bewohnte Vororte, es ist aber Nacht und kein Mensch zu sehen. Je weiter die Fahrt in das Stadtinnere führt, desto deutlicher werden die Zeichen des Unbewohntseins, in ganzen Straßenzügen sind die Fenster und Türen vernagelt, und in ganzen Vierteln ist alles niedergerissen, so daß man weit über das derart entstandene Brachland hinwegschauen konnte. Aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzt und nach wie vor ungeheuer gewaltig wirkend, ist die Wunderstadt des letzten Jahrhunderts beinahe restlos ausgehöhlt. Im Inneren der Stadt ist, obschon bereits der Morgen graut, niemand zu sehen. Tatsächlich konnte man glauben, die Stadt sei längst von ihren Bewohnern verlassen und nun mehr ein einziges Totenhaus oder Mausoleum. Als einzige nachweislichen Bewohner Manchesters lernen wir vorerst Gracie Irlam kennen, in deren Hostelrie Selysses seine Unterkunft findet. Die anderen Gäste, travelling gentlemen and their female companions, bleiben unsichtbar. Selysses wird auf ein Elektrogerät, die sogenannte Teemagd, als Lebensgefährten angewiesen bleiben. Wenn die Nacht sich herabsenkte, begannen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Anscheinend ist die Stadt von unmündigen Squattern in Beschlag genommen. An einer Straßenkreuzung inmitten in der Ödnis von Angel Fields stößt Selysses auf einen kleinen Knaben, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der ihn, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen. Zwei Überlebende der Menschheit, jeder mit einem leblosen Gefährten, Magd und Gesell.
Der zweite nachweisliche Bewohner Manchesters ist Aurach, der Titelheld der Erählung, um die es geht. Folgt man dem Weg in den gepflasterten Hof, in dessen Mitte, umgeben von einem kleinen Grasplatz, ein blühendes Mandelbäumchen steht, ist es allerdings, als betrete man exterritoriales Gelände. Nichts deutet darauf hin, daß es irgendwo in Manchester ein weiteres Mandelbäumchen geben könnte. In gewisser Weise ähnlich steht es um Aurachs zweite Wohnstätte, dem Wadi Halfa, einem Lokal, das von einer vielköpfigen Nomadenfamilie betrieben wird. Ein von unbekannter Hand gemaltes Fresko an der Wand des Lokals zeigt eine Karawane, sie aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegte. Mehr noch als die Squatter im Kindesalter scheinen die Wüstensöhne berufen, die Wüstenstadt Manchester in ihre Gewalt zu bringen.

Fünf Zeitschichten sind in der Erzählung durch Manchester gelegt, ohne daß die Leser sich darüber immer im klaren wären, das ist auch nicht nötig. Da ist Manchester die Wunderstadt des neunzehnten Jahrhunderts; Manchester in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, Aurach kommt als Kunststudent in die Stadt; in den sechziger Jahren, Selysses reist an; in den Siebzigern, die Stadt scheint einen neuen Aufschwung zu nehmen; in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, Selysses erneuert die Bekanntschaft mit Aurach und der scheinbare Aufschwung ist schon wieder hinfällig. Was man gebaut hatte, um den allgemeinen Zerfallsprozeß aufzuhalten, war selbst schon vom Zerfall bedroht, ja, sogar die sogenannten development zones am Rand der Innenstadt und entlang des Schiffahrtskanals schienen schon wieder halb aufgegeben. Die siebziger Jahre bleiben ohne nachhaltige Wirkung und werden daher übersprungen, so daß die Sechziger an die Achtziger anschießen. In den Vierzigern funktionierte Manchester noch in einem ausklingenden Modus des vorausgegangenen Jahrhunderts, so daß letztlich die Stadt des zwanzigsten der des neunzehnten Jahrhunderts gegenübersteht.

Auf seinen ersten Ausflügen sieht Selysses so gut wie nur verlorene Hinterlassenschaften der Vergangenheit, eine längst außer Betrieb gesetzte Gasanstalt, ein Kohlendepot, eine Knochenmühle, den endlos sich dahinziehenden gußeisernen Palisadenzaun eines Schlachthofs, eine aus lauter lederfarbenen Backsteinen gemauerte gotische Burg mit Brustwehren und Zinnen und zahlreichen Türmchen und Toren. In der Nachmittagsdämmerung brachen die Stare in einer weit in einer weit in die Hunderttausende gehenden Zahl in dunklen Wolken über die Stadt herein. Über den leeren Lagertennen und Speichern segeln aus dem Schatten eines der hoch hinaufragenden Gebäude mit wildem Geschrei die Möwen hinaus ins Licht. In dem in die Ebene auslaufenden Parkland, weit unterhalb des Aussichtspunktes, ist ein Rudel Hirsche auf dem Weg in die Nacht. Ob es Courbets Hirsche waren, fragt man sich, als man später auf dessen Bild Die Eiche des Vercingetorix stößt. Neben der Inbesitznahme durch Squatter und Wüstennomaden hat, ausgehend womöglich vom Mandelbäumchen in Aurachs Hof, die Renaturalisierung des Stadtgeländes begonnen.

Der Höhepunkt des Aufschwungs des in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietenden Industriejerusalems sei, so Aurach, des Bau des Schiffahrtkanals in den Jahren 1887 bis 1894 gewesen. Durch die Vollendung des gigantischen Kanalprojekts war Manchester zum größten Binnenhafen der Welt aufgestiegen. Der Schiffahrtsverkehr hatte um 1939 seinen Höhepunkt erreicht und war dann bereits gegen Ende der fünfziger Jahre völlig zum Erliegen gekommen. 1945, nach der Entlassung aus der Armee, hatte Aurach sich während eines Spaziergangs einen Blick auf die Stadt aus der Vogelperspektive verschafft. Die letzten Sonnenstrahlen waren eingefallen und hatten eine Zeitlang das Panorama wie in einem einzigen Feuerschein aufleuchten lassen. Erst als der erlosch, wurden die ineinander gestaffelten und verschobenen Häuserzeilen sichtbar, die Spinnereien und Färbereien, dis Gaskessel, Chemiewerke und Fabrikationsanlagen jeder Art. Das eindrucksvollste aber die überall aus der Ebene und dem flachen Häusergewirr herausragenden Schlote, die heute nahezu ausnahmslos niedergelegt oder außer Betrieb sind. Damals aber rauchten sie noch zu Tausenden, bei Tag sowohl als in der Nacht.

Die Gedanken sind frei, und so mag man sich vorstellen, die vierte und letzte der langen Erzählungen zu kürzen um die Teile, die nicht in Manchester angesiedelt sind, um sie anschließend zu wenden und nicht von Geschehen, sondern vom Schauplatz her zu lesen. Man hätte eine zusätzliche authentische Sebalderzählung gewonnen: Splendour and Misery of the City of Manchester, wobei es den Glanz in den Augen des Dichters nie gegeben hat.
Selysses und Aurach bewohnen Manchester weniger, als daß sie es betrachten und deuten, ähnlich wie die Kosmonauten den Stern Solaris. Die Deutung scheint die Oberhand zu gewinnen gegenüber der Betrachtung, vieles, was zu sehen wäre und was der einfache Reisende sieht, bleibt außerhalb des Blickfelds. Für Selysses, der die Stadt nur in ihrem späten Zustand kennt, scheint alles Vorausgegangene nur Präliminarium, um das Spätere zu ermöglichen. Das schwarze Loch ist die Bestimmung der Sterne, und auch in der Mitte der Stadt scheint alles überzugehen in einen tiefschwarzen, in keiner Weise mehr differenzierten Bereich. Als seine Mittel es erlauben, nimmt Aurach Wohnung in einem verfallenden Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts, die beiden Zeitseiten der Stadt sind verklammert. Auf den letzten Seiten gleitet die Erzählung hinüber nach Lodsch, do Łodzi, polskiej metropolii przemysłowej, zwanej niegdyś polskim Manchesterem. Wir stoßen hier auf Nona, Decuma und Morta, die Tochter der Nacht mit Spindel und Faden und Schere. Diese Seiten sind das letzte Kapitel auch der Erzählung, die hier gelesen wurde.

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