Donnerstag, 5. April 2018

Mythisches Duo

Jagdgefährten in der Zeit

Zwei mythische Gestalten vor allem halten die vier Teile der Schwindel.Gefühle zusammen, der heilige Georg und der Jäger Gracchus. Mit dem heiligen Georg waren wir schon in Nach der Natur bekannt geworden, gleich zu Beginn, als er auf Grünewalds Flügelaltar zuvorderst am Bildrand steht, eine Handbreit über der Welt, gleich wird er über die Schwelle des Rahmens treten und die Gemeinschaft der Heiligen verlassen.

I Beyle
Stendhal beschäftigt sich nicht mit dem heiligen Georg, wenn er auch, wie jeder andere, sicher von ihm gehört hatte. Ohne jede Vorbereitung und ohne es zu wissen macht er hingegen die Bekanntschaft des Jägers Gracchus. Gracchus (1) wird nicht namentlich genannt, ist aber für uns, wenn schon nicht für Stendhal und seine Reisegefährtin, unschwer zu erkennen, als sein schwerer alter Kahn, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen, als dieser Kahn also leise in den Hafen von Riva schwebt und eine Bahre an Land getragen wird.

II Estero
Im Bahnhofspissoir von Desenzano, wo gut siebzig Jahre zuvor vielleicht auch Kafka bereits sein Wasser abgeschlagen hatte, stand neben dem Spiegel in ungelenker Schrift Il cacciatore, ein klarer Hinweis auf den Gracchus (2). Als er sich die Hände abgetrocknet hatte, fügt der Erzähler denn auch folgerichtig noch die Worte nelle selva nera hinzu. In Verona tragen zwei Männer in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen aus einem Hinterhaus eine Bahre heraus, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag – eigentlich belanglos, im geltenden Zusammenhang aber handelt es sich ohne jede Frage um den Gracchus (3), der von Riva aus über Desenzano und Verona auf verborgenen Wegen sich dem Allgäu nähert, wo wir ihn unter dem Namen Hans Schlag wiedertreffen werden. Das kunsthistorische Interesse des Erzählers, Adroddwr, geht weit über dasjenige Kafkas hinaus. Besonders die Malerei Pisanellos hat es ihm angetan, das schöne Wandbild des heiligen Georg (1) über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini würde er sich unter keinen Umständen entgehen lassen. Der heilige Georg steht im Begriff, gegen den Drachen auszuziehen, und nimmt Abschied von der Principessa. Zum Erstaunen ist es, wie Pisanello es verstanden hat, den jäh heraustretenden, seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges. Eine Versenkung in diese Bildwelt wäre für Kafka womöglich aufschlußreich und von Nutzen gewesen bei der Regelung seiner komplizierten Liebesgeschichten. Eine ungewöhnlich Erscheinungsweise wählt der heilige Georg, San Giorgio, dann wenig später in Mailand. Als Giorgio (2) Santini, seines Zeichens Artist, sitzt er neben dem Erzähler im Wartezimmer des deutschen Konsulats, abgesehen von der Namensähnlichkeit verrät ihn der wirklich wunderbare, formvollendete weitkrempige Strohhut, den er in den Händen trägt, unzweifelhaft derselbe, den der heilige Georg auf Pisanellos Bild Con cappello di paglia trägt.

III Dr. K.
Daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg (3) über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini angesehen hätte, dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt, wenn er es gesehen haben sollte, hat es ihn, anders als den Erzähler nicht weiter beeindruckt. Auf seiner Italienreise ist Kafka weder als Vertreter der Arbeiterversicherungsanstalt noch als Tourist erfolgreich, auch die Liebesgeschichte mit der Schweizerin aus Genua bleibt, wenn man das Wort auch in diesem Bereich anwenden will, ohne durchschlagenden Erfolg, die Badekur wird nicht anschlagen, der große Ertrag der Reise ist die Geburt des untoten Gracchus (4), der nun tatsächlich und authentisch in Riva vor Anker geht, so wie es Stendhal auf eine rätselhafte Weise bereits vorausgesehen hatte.

IV Ritorno
In Ritorno erscheint Gracchus (5) als der Jäger Hans Schlag und das gleich dreifach, als eine weitere Gestalt Kafkas, als eine Phantasie des noch kindlichen Erzählers, die exakt den Worten Kafkas folgt - eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf, ein starker Schnurrbart breitete sich steif aus, gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug zusammenhielt – und als realer Jäger, in W., den eine am Arm eintätowierte Barke als Wiedergänger des Gracchus erweist. Der heilige Georg (4) am Ende der Friedhofsmauer in W. durchbohrt ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen, in der Londoner Nationalgalerie dann hat der Drache, ein wiederum von Pisanello gemaltes geringeltes und geflügeltes Tier, unter dem Schwert des heiligen Georgs (5) endlich sein Leben ausgehaucht.

*

Das gesamte Buch hindurch haben wir es mit zwei Jägern zu tun, der eine spezialisiert auf Drachenjagd, der andere zuständig für jegliches jagdbare Wild. Gracchus ist bereits 1500, vielleicht 1600 Jahre unterwegs mit seinem Kahn, der heilige Georg, wenn er denn eine reale Person gewesen sein sollte, wird auf das vierte Jahrhundert datiert, die beiden waren also in etwa Zeitgenossen zu Lebzeiten des späterhin untoten Gracchus. Sie haben keinerlei Notiz voneinander genommen, geschweige denn, daß sie gemeinsam aufgetreten wären. In Begleitung einer verwegenen Reitertruppe, darunter ein kalmückischer Bogenschütze, rückt Georg aus gegen den Drachen, nach Erledigung des blutigen Geschäfts verbleibt er für gut tausend Jahre in der Gemeinschaft der Heiligen, bevor er auf Grünewalds Altarbild seinen Austritt aus dieser Verbindung vorbereitet. Unter dem Strohhut, cappello di paglia, geht etwas herzbewegend Weltliches von ihm aus, und als der Artist Giorgio Santini ist er in der Gegenwart angekommen. Giorgio ist ein Mitläufer, wenn nicht Agent der Geschichte, Gracchus dagegen ist ein geschichtsloses Wesen, er hat die reguläre Ausfahrt verpaßt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, festgefahren, wie es heißt, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, die uns immer genau dort ergreift, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist. Der heilige Georg und der Jäger Gracchus, ein Paar, das von fern an Settembrini und Naphta erinnert. Gracchus ist ein Geschöpf Kafkas, das der Dichter mimetisch aufgreift und ergänzt, Georg, so wie er in der Erzählung vorwiegend entlang einer Bildergalerie auftritt, ist ein Geschöpf des Dichters, das heißt aber nicht, Georg stünde ihm näher als Gracchus.

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