Dienstag, 3. April 2018

Mimetische Spiele

Doppelgängertanz

Als Punkt sechs Uhr im Bahnhof Innsbruck die sogenannten Tiroler Stuben aufsperren, setzt er sich hinein in diese alle anderen Bahnhofswirtschaften an Trostlosigkeit bei weitem übertreffende Restauration, bestellt einen Morgenkaffee und blättert in den Tiroler Nachrichten. Beides, der Tiroler Morgenkaffee und die Tiroler Nachrichten, wirkten sich auf seine Verfassung eher ungünstig aus. Es wunderte ihn daher keineswegs, daß die Dinge noch eine schlimmere Wendung nahmen, als die Bedienerin, der gegenüber er eine gar nicht einmal unfreundliche Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee hatte fallen lassen, ihm auf die bösartigste Weise, die man denken kann, das Maul anhängte. – Was vom Inhalt her eine Klage oder Beschwerde sein mag, weist im Tonfall unverkennbar eine gewisse Zufriedenheit, wenn nicht gar ein gewisses Behagen auf. Als er einige Monate zuvor in der Goldenen Taube zu Verona schon fast wie ein Prinz aus Arabien empfangen wird, setzt er sich sogleich zu Wehr mit der Bemerkung, im allgemeinen würde er schlecht bedient, eine Einschätzung, für die er in seinem Reisebericht bereits zahlreiche Belege geliefert hat. Auch später, in W., setzen sich die eher negativen Erfahrungen fort. Die sehr wortkarge Dame an der Rezeption musterte ihn mit unverhohlener Mißbilligung, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Obzwar ein seinem Wunsch entsprechendes zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. - Abgesehen von der Goldenen Taube sind die Einnachtungen ein fortwährendes mimetisches Spiel mit den Freuden der Deklassiertheit, wie Kafka sie erfahren und in Worte gefaßt hatte. Dabei ist es naturgemäß nicht die begehrende, zerstörerische Mimesis à la Girard, sondern eine teilnehmende, zugeneigte Mimesis. Die Freuden, allerdings nicht nur die Freuden, hatte Kafka sogleich einschränkend hinzugefügt, und auch der Erzähler, Adroddwr, hat den Eindruck, er habe es als Clochard in Wien oder als zu seinem Vergnügen in Italien herumreisender englischer Päderast mit der Selbstdeklassierung vielleicht doch ein wenig übertrieben.

Die an sich resolute und lebensfrohe Frau machte an diesem Tag einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte ausgiebig in seinem Paß, verglich mehrmals sein Gesicht mit der Photographie, wobei sie ihm einmal lange in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in der Lade und händigte ihm den Zimmerschlüssel aus. – Die Ähnlichkeit des Verhaltens mit dem der Engelwirtin in W. ist auffällig, und doch werden wir hier auf ein anderes mimetisches Feld geleitet, dem der Sehnsucht nach Liebe. Im weiteren Verlauf der Affaire scheint es dem Reisenden einmal, als habe Luciana seine Schulter berührt, ansonsten bleibt es strikt bei Kafkas Anleitung zur körperlosen Liebe. Das Ersatzdokument für den verlorenen Paß verwandelt sich auf geheimnisvolle Weise in einen Trauschein, ähnlich hatte beim an sich körperbetonten Stendhal der die reale Geliebte ablösende Gipsabdruck ihrer linken Hand und insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers Emotionen von einer Heftigkeit verursachte, wie er sie bisher noch nicht erfahren hatte.

In Riva erfindet Kafka den Jäger Gracchus. Der Sinn seiner unablässigen Fahrten bestünde, so heißt es, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, die uns immer genau dort ergreift, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist. Der Erzähler war bereits als Kind in W. dem realen Jäger Hans Schlag begegnet, real und gleichwohl ebenfalls von Kafka nur ersonnen und obendrein, wie eine am Arm eintätowierte Barke auf irgendeine Weise mit dem Gracchus identisch, zumindest aber verwandt oder verschwägert. Der Jäger Schlag fragt nicht lang nach Schein und Gesetz. Er war es, der dort in der Scheune, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet und hatte, wie im Widerschein des Schneelichts zu erkennen war, die Augen genauso verdreht wie der Dr. Rambousek, als er tot mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte gelegen war. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten.  - Diese Szene, deren Zeuge er war, sowie der nur wenig später erfolgte Tod des Jägers, schwächen das Immunsystem des  Jungen so sehr, daß er für längere Zeit mit Diphterie bettlägrig wird. Weitgehend genesen erhält er Privatunterricht vom Lehrerfräulein Rauch und erfährt erstmalig und zutiefst die Sehnsucht nach Liebe, die aber angesichts seiner allenfalls halben Volljährigkeit rechtmäßig nicht zu genießen ist. Die empathische Mimesis, so wie sie uns vorgeführt wird, ist eine geminderte, spielerische, vielleicht sogar eine wenig schauspielerische Mimesis, ein leichtfüßiges Doppelgängerspiel, ein mimetischer Tanz.

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