Donnerstag, 26. April 2018

Maiden

Blade Runner

Beschränkt sich Bergotte alias Proust bei der Betrachtung von Vermeers Ansicht von Delft auf den gelben Mauerfleck, weil er das restliche Bildwerk für vergleichsweise minderwertig hält? Wohl eher erweist sich für ihn die überragende Qualität des Gemäldes in jeder seiner Einzelheiten, in einer mediokren Umgebung könnte sich kein göttlicher Mauerfleck behaupten. Die Versenkung ins Detail und der Versuch, allgemeines Verständnis eines Kunstwerks zu gewinnen, das sind zwei Ansätze, die einander nicht ersetzen können, sich aber auch nicht leichthin ergänzen. Unzugänglich füreinander sind sie nicht, und wenn Domenico Gnoli einem Knopf ein ganzes Gemälde widmet, könnte man allenfalls meinen, die beiden Aspekte fallen in eins.

Es war eine sogenannte Teas Maid, Weckeruhr und Teemaschine zugleich. Die auf einer elfenbeinfarbenen Blechkonsole aufgebaute Apparatur glich, wenn beim Teekochen der Dampf aus ihr aufstieg, einem Miniaturkraftwerk, und das Zifferblatt der Weckeruhr phosphoreszierte, wenn die Dämmerung hereinbrach, in einem stillen Lindgrün. Das ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät ließ ihn durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten, als er sich, umfangen von einem ihm unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit sehr leicht aus dem Leben hätte entfernen können. - Leuchten, sprudeln, dasein, nicht technische Funktionen, Zeitanzeige und Teezubereitung, werden benannt, sondern menschliches Verhalten, ein strahlendes Antlitz, ein geflüsterter Morgengruß, ein fragloses Miteinander, mehr Magd als Maschine. Die Begegnung mit der Teas Maid, halb Scherz, halb melancholische Einlassung, bleibt keine unverbundene Episode, es gibt keinen Mauerfleck ohne die Stadt Delft. Wenn die Nacht sich herabsenkte, begannen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Die Maschinenfrau einerseits, andererseits kindliche Schattenfiguren, von denen man nicht recht weiß, ob sie menschlicher Natur sind oder Wesen nach der Natur, eine Blade Runner-Stimmung liegt über dem Ganzen. Die feine Heiterkeit bleibt gleichwohl erhalten und wird erneut aufgenommen in der Gestalt des kleinen Knaben, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der ihn, den Erzähler, Adroddwr, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen. Das dystopische Motivmuster ließe sich weiterverfolgen, hin etwa zu dem einsam blühenden Mandelbäumchen im Hof der zu Aurachs Künstlerwerkstatt führt, mais, brisons là-dessus. So unbestritten die menschenfreundlichen Leistungen der Teas Maid sind und bleiben, ist es doch gut, am Anfang der Erzählung Dr. Selwyn zu erfahren, daß inzwischen ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine Maiden namens Clara, ihren Platz eingenommen hat.

Montag, 9. April 2018

Frau mit Hund

Fragen der Größe

Von einer Dame mit Hündchen, Dama s sobatschkoj, kann in mehrfacher Hinsicht nicht die Rede sein. Damen waren ein Erzeugnis vergangener Standesgesellschaften und definierten sich, betrachtet man nur das Ökonomische, durch ein hohes, nicht auf Erwerbstätigkeit beruhendes Einkommen. Die gesellschaftliche Gruppe der Damen ist beginnend im 19., dann aber rapide im 20. Jahrhundert stark rückläufig, die Friedhofswärterin aber wäre dieser Gruppe ohnehin nicht zuzurechnen. Damen leben gleichwohl fort in sprachlichen Derivaten, als Empfangsdamen etwa, einer im Prosawerk des Dichters stark vertretene Gruppierung, der als Untergruppierung auch die Wärterinnen zugerechnet werden können. Als engste Verwandte der Friedhofswärterin ist die Mesnerin von Sant’Anastasia anzusehen, die sich allerdings in zwei wesentlichen Punkten von der Friedhofswärterin unterscheidet: Sie führt eine Innenraumexistenz, während die Wärterin ihre Aufgabe unter freiem Himmel erfüllt, und sie hat keinen Hund. Innerhalb der gesamten Gruppe der Empfangsdamen hat im übrigen einzig die Friedhofswärterin einen Hund, wenn man absieht von dem durchweg männlichen Paar, das in den Niederlanden in Hotel betreibt und an Kindesstatt einen Zwergpudel verwöhnt. Als verwandt könnte ferner die Wärterin des Giardino Giusti gelten, von der wissen wir aber nur, daß sie in einem dunklen Gehäuse saß und dem Erzähler beim Verlassen des Parks zunickte. Aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit ist die Friedhofswärterin überdies weitläufig der Gruppe der Verwachsenen und Krüppel zuzuordnen, die eine nicht unerhebliche Schnittmenge mit den Empfangsdamen teilt, man denke nur an die männliche Empfangsdame des Hotels in Ithaca, an den Portier, der so stark vornübergebeugt ging, daß er mit Sicherheit nicht imstand war, von seinem Gegenüber mehr als die Beine und den Unterleib wahrzunehmen. Bei der Friedhofswärterin ist allerdings das Maß der Kleinwüchsigkeit schwer abzuschätzen, da es sich letztlich aus dem Verhältnis zu ihrem Hund ergibt, der beinah so groß war wie sie selber. War der Hund riesig, war sie vielleicht nur klein, wenn der Hund, wie die angegebene Rasse vermuten läßt, groß aber nicht übergroß war, war sie tatsächlich sehr klein.

Diese systematischen Vorüberlegungen haben die Friedhofswärterin dermaßen dekonstruiert und konsterniert, daß ihr das Leben zurückgegeben werden muß. Den Friedhof habe er, so Austerlitz, erst wenige Tage vor seiner Abreise aus London entdeckt. Drinnen, hinter der Mauer, spazierte eine vielleicht siebzigjährige, auffallend kleinwüchsige Frau, die Wärterin des Friedhofs, wie sich herausstellte, in Hausschuhen über die zwischen den Gräbern hindurchführenden Wege. An ihrer Seite, beinahe genau so groß wie sie selber, ging ein grau gewordener belgischer Schäferhund, der auf den Namen Billie hörte und sehr furchtsam war. - Frau und Hund, ein gemeinsam alt gewordenes Paar. Die Schulterhöhe eines belgischen Schäferhundes liegt unter siebzig Zentimetern, allenfalls ein Meter Scheitelhöhe, man ist nahe bei der Erde, unter der Erde die Toten. Austerlitz hat offenbar mit der alten Frau gesprochen, wie würde er sonst ihren Beruf und den Namen des Hundes kennen. Der Realität macht er aber nur die unumgänglichen Zugeständnisse, die Verzauberung bleibt erhalten: In dem hellen Frühlingslicht, das die frisch ausgeschlagenen Lindenblätter durchstrahlte, hätte man meinen können, man sei eingetreten in eine Märchenerzählung, die, genau wie das Leben selber, älter geworden ist mit der verflossenen Zeit. – Es war einmal ist das Tempus des Märchens, wenn wir uns darauf einlassen, gleiten wir, dem Charakter des Ortes angemessen, in die verflossene Zeit.

Donnerstag, 5. April 2018

Mythisches Duo

Jagdgefährten in der Zeit

Zwei mythische Gestalten vor allem halten die vier Teile der Schwindel.Gefühle zusammen, der heilige Georg und der Jäger Gracchus. Mit dem heiligen Georg waren wir schon in Nach der Natur bekannt geworden, gleich zu Beginn, als er auf Grünewalds Flügelaltar zuvorderst am Bildrand steht, eine Handbreit über der Welt, gleich wird er über die Schwelle des Rahmens treten und die Gemeinschaft der Heiligen verlassen.

I Beyle
Stendhal beschäftigt sich nicht mit dem heiligen Georg, wenn er auch, wie jeder andere, sicher von ihm gehört hatte. Ohne jede Vorbereitung und ohne es zu wissen macht er hingegen die Bekanntschaft des Jägers Gracchus. Gracchus (1) wird nicht namentlich genannt, ist aber für uns, wenn schon nicht für Stendhal und seine Reisegefährtin, unschwer zu erkennen, als sein schwerer alter Kahn, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen, als dieser Kahn also leise in den Hafen von Riva schwebt und eine Bahre an Land getragen wird.

II Estero
Im Bahnhofspissoir von Desenzano, wo gut siebzig Jahre zuvor vielleicht auch Kafka bereits sein Wasser abgeschlagen hatte, stand neben dem Spiegel in ungelenker Schrift Il cacciatore, ein klarer Hinweis auf den Gracchus (2). Als er sich die Hände abgetrocknet hatte, fügt der Erzähler denn auch folgerichtig noch die Worte nelle selva nera hinzu. In Verona tragen zwei Männer in schwarzen Röcken mit silbernen Knöpfen aus einem Hinterhaus eine Bahre heraus, auf der unter einem blumengemusterten Tuch offensichtlich ein Mensch lag – eigentlich belanglos, im geltenden Zusammenhang aber handelt es sich ohne jede Frage um den Gracchus (3), der von Riva aus über Desenzano und Verona auf verborgenen Wegen sich dem Allgäu nähert, wo wir ihn unter dem Namen Hans Schlag wiedertreffen werden. Das kunsthistorische Interesse des Erzählers, Adroddwr, geht weit über dasjenige Kafkas hinaus. Besonders die Malerei Pisanellos hat es ihm angetan, das schöne Wandbild des heiligen Georg (1) über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini würde er sich unter keinen Umständen entgehen lassen. Der heilige Georg steht im Begriff, gegen den Drachen auszuziehen, und nimmt Abschied von der Principessa. Zum Erstaunen ist es, wie Pisanello es verstanden hat, den jäh heraustretenden, seitwärts schon auf die schwere blutige Arbeit abschweifenden männlichen Blick des Ritters abzusetzen von der nur durch die geringfügigste Senkung der unteren Lidgrenze angedeuteten Beschlossenheit des weiblichen Auges. Eine Versenkung in diese Bildwelt wäre für Kafka womöglich aufschlußreich und von Nutzen gewesen bei der Regelung seiner komplizierten Liebesgeschichten. Eine ungewöhnlich Erscheinungsweise wählt der heilige Georg, San Giorgio, dann wenig später in Mailand. Als Giorgio (2) Santini, seines Zeichens Artist, sitzt er neben dem Erzähler im Wartezimmer des deutschen Konsulats, abgesehen von der Namensähnlichkeit verrät ihn der wirklich wunderbare, formvollendete weitkrempige Strohhut, den er in den Händen trägt, unzweifelhaft derselbe, den der heilige Georg auf Pisanellos Bild Con cappello di paglia trägt.

III Dr. K.
Daß er das von Pisanello gemalte schöne Wandbild des heiligen Georg (3) über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini angesehen hätte, dafür gibt es nirgends einen Anhaltspunkt, wenn er es gesehen haben sollte, hat es ihn, anders als den Erzähler nicht weiter beeindruckt. Auf seiner Italienreise ist Kafka weder als Vertreter der Arbeiterversicherungsanstalt noch als Tourist erfolgreich, auch die Liebesgeschichte mit der Schweizerin aus Genua bleibt, wenn man das Wort auch in diesem Bereich anwenden will, ohne durchschlagenden Erfolg, die Badekur wird nicht anschlagen, der große Ertrag der Reise ist die Geburt des untoten Gracchus (4), der nun tatsächlich und authentisch in Riva vor Anker geht, so wie es Stendhal auf eine rätselhafte Weise bereits vorausgesehen hatte.

IV Ritorno
In Ritorno erscheint Gracchus (5) als der Jäger Hans Schlag und das gleich dreifach, als eine weitere Gestalt Kafkas, als eine Phantasie des noch kindlichen Erzählers, die exakt den Worten Kafkas folgt - eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf, ein starker Schnurrbart breitete sich steif aus, gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug zusammenhielt – und als realer Jäger, in W., den eine am Arm eintätowierte Barke als Wiedergänger des Gracchus erweist. Der heilige Georg (4) am Ende der Friedhofsmauer in W. durchbohrt ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen, in der Londoner Nationalgalerie dann hat der Drache, ein wiederum von Pisanello gemaltes geringeltes und geflügeltes Tier, unter dem Schwert des heiligen Georgs (5) endlich sein Leben ausgehaucht.

*

Das gesamte Buch hindurch haben wir es mit zwei Jägern zu tun, der eine spezialisiert auf Drachenjagd, der andere zuständig für jegliches jagdbare Wild. Gracchus ist bereits 1500, vielleicht 1600 Jahre unterwegs mit seinem Kahn, der heilige Georg, wenn er denn eine reale Person gewesen sein sollte, wird auf das vierte Jahrhundert datiert, die beiden waren also in etwa Zeitgenossen zu Lebzeiten des späterhin untoten Gracchus. Sie haben keinerlei Notiz voneinander genommen, geschweige denn, daß sie gemeinsam aufgetreten wären. In Begleitung einer verwegenen Reitertruppe, darunter ein kalmückischer Bogenschütze, rückt Georg aus gegen den Drachen, nach Erledigung des blutigen Geschäfts verbleibt er für gut tausend Jahre in der Gemeinschaft der Heiligen, bevor er auf Grünewalds Altarbild seinen Austritt aus dieser Verbindung vorbereitet. Unter dem Strohhut, cappello di paglia, geht etwas herzbewegend Weltliches von ihm aus, und als der Artist Giorgio Santini ist er in der Gegenwart angekommen. Giorgio ist ein Mitläufer, wenn nicht Agent der Geschichte, Gracchus dagegen ist ein geschichtsloses Wesen, er hat die reguläre Ausfahrt verpaßt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, festgefahren, wie es heißt, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, die uns immer genau dort ergreift, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist. Der heilige Georg und der Jäger Gracchus, ein Paar, das von fern an Settembrini und Naphta erinnert. Gracchus ist ein Geschöpf Kafkas, das der Dichter mimetisch aufgreift und ergänzt, Georg, so wie er in der Erzählung vorwiegend entlang einer Bildergalerie auftritt, ist ein Geschöpf des Dichters, das heißt aber nicht, Georg stünde ihm näher als Gracchus.

Mittwoch, 4. April 2018

Mauerfleck

Petit pan de mur jaune

Beschränkt sich Bergotte alias Proust bei der Betrachtung von Vermeers Ansicht von Delft auf den gelben Mauerfleck, weil er das restliche Bildwerk für vergleichsweise minderwertig hält? Wohl eher erweist sich für ihn die überragende Qualität des Gemäldes in jeder seiner Einzelheiten, in einer mediokren Umgebung könnte sich kein göttlicher Mauerfleck behaupten.

Dienstag, 3. April 2018

Mimetische Spiele

Doppelgängertanz

Als Punkt sechs Uhr im Bahnhof Innsbruck die sogenannten Tiroler Stuben aufsperren, setzt er sich hinein in diese alle anderen Bahnhofswirtschaften an Trostlosigkeit bei weitem übertreffende Restauration, bestellt einen Morgenkaffee und blättert in den Tiroler Nachrichten. Beides, der Tiroler Morgenkaffee und die Tiroler Nachrichten, wirkten sich auf seine Verfassung eher ungünstig aus. Es wunderte ihn daher keineswegs, daß die Dinge noch eine schlimmere Wendung nahmen, als die Bedienerin, der gegenüber er eine gar nicht einmal unfreundliche Bemerkung über den Tiroler Zichorienkaffee hatte fallen lassen, ihm auf die bösartigste Weise, die man denken kann, das Maul anhängte. – Was vom Inhalt her eine Klage oder Beschwerde sein mag, weist im Tonfall unverkennbar eine gewisse Zufriedenheit, wenn nicht gar ein gewisses Behagen auf. Als er einige Monate zuvor in der Goldenen Taube zu Verona schon fast wie ein Prinz aus Arabien empfangen wird, setzt er sich sogleich zu Wehr mit der Bemerkung, im allgemeinen würde er schlecht bedient, eine Einschätzung, für die er in seinem Reisebericht bereits zahlreiche Belege geliefert hat. Auch später, in W., setzen sich die eher negativen Erfahrungen fort. Die sehr wortkarge Dame an der Rezeption musterte ihn mit unverhohlener Mißbilligung, sei es wegen meiner von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogenen äußeren Erscheinung, sei es wegen meiner ihr unerklärlichen Geistesabwesenheit. Obzwar ein seinem Wunsch entsprechendes zur Straße hinaus gelegenes Zimmer im ersten Stock ohne jeden Zweifel verfügbar war, blätterte sie vorwärts und rückwärts in ihrem Register herum, ehe sie ihm die Schlüssel aushändigte. Dabei hielt sie, als sei es ihr kalt, mit der Linken die Strickjacke zusammen und erledigte umständlich und ungeschickt alles nur mit der anderen Hand, wodurch sie, wir ihm schien, sich Bedenkzeit gewinnen wollte diesem eigenartigen Novembergast gegenüber. - Abgesehen von der Goldenen Taube sind die Einnachtungen ein fortwährendes mimetisches Spiel mit den Freuden der Deklassiertheit, wie Kafka sie erfahren und in Worte gefaßt hatte. Dabei ist es naturgemäß nicht die begehrende, zerstörerische Mimesis à la Girard, sondern eine teilnehmende, zugeneigte Mimesis. Die Freuden, allerdings nicht nur die Freuden, hatte Kafka sogleich einschränkend hinzugefügt, und auch der Erzähler, Adroddwr, hat den Eindruck, er habe es als Clochard in Wien oder als zu seinem Vergnügen in Italien herumreisender englischer Päderast mit der Selbstdeklassierung vielleicht doch ein wenig übertrieben.

Die an sich resolute und lebensfrohe Frau machte an diesem Tag einen schwermütigen, wo nicht gar untröstlichen Eindruck. Mit auffälliger Langsamkeit nahm sie das Registrationsgeschäft vor, blätterte ausgiebig in seinem Paß, verglich mehrmals sein Gesicht mit der Photographie, wobei sie ihm einmal lange in die Augen schaute, verschloß das Dokument zuletzt bedachtsam in der Lade und händigte ihm den Zimmerschlüssel aus. – Die Ähnlichkeit des Verhaltens mit dem der Engelwirtin in W. ist auffällig, und doch werden wir hier auf ein anderes mimetisches Feld geleitet, dem der Sehnsucht nach Liebe. Im weiteren Verlauf der Affaire scheint es dem Reisenden einmal, als habe Luciana seine Schulter berührt, ansonsten bleibt es strikt bei Kafkas Anleitung zur körperlosen Liebe. Das Ersatzdokument für den verlorenen Paß verwandelt sich auf geheimnisvolle Weise in einen Trauschein, ähnlich hatte beim an sich körperbetonten Stendhal der die reale Geliebte ablösende Gipsabdruck ihrer linken Hand und insbesondere die leichte Krümmung des Ringfingers Emotionen von einer Heftigkeit verursachte, wie er sie bisher noch nicht erfahren hatte.

In Riva erfindet Kafka den Jäger Gracchus. Der Sinn seiner unablässigen Fahrten bestünde, so heißt es, in der Abbuße einer Sehnsucht nach Liebe, die uns immer genau dort ergreift, wo scheinbar und gesetzmäßig nichts zu genießen ist. Der Erzähler war bereits als Kind in W. dem realen Jäger Hans Schlag begegnet, real und gleichwohl ebenfalls von Kafka nur ersonnen und obendrein, wie eine am Arm eintätowierte Barke auf irgendeine Weise mit dem Gracchus identisch, zumindest aber verwandt oder verschwägert. Der Jäger Schlag fragt nicht lang nach Schein und Gesetz. Er war es, der dort in der Scheune, mit einer Hand an dem inneren Lattenverschlag des Schopfs sich einhaltend, in der Haltung eines gegen den Wind gehenden Menschen im Dunkeln stand und dessen ganzen Körper eine seltsame, fortwährend sich wiederholende wellenförmige Bewegung durchlief. Zwischen ihm und dem Verschlag, den seine Linke umklammert hielt, war auf der Torfwasenbeige die Romana ausgebreitet und hatte, wie im Widerschein des Schneelichts zu erkennen war, die Augen genauso verdreht wie der Dr. Rambousek, als er tot mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte gelegen war. Ein schweres Stöhnen und Schnaufen drang aus der Brust des Jägers, der Frostatem stieg auf aus seinem Bart, und einmal ums andere schob er, wenn die Welle ihm das Kreuz durchdrückte, in die Romana hinein, die ihrerseits mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis der Jäger und die Romana nur noch eine einzige nicht mehr unterscheidbare Form bildeten.  - Diese Szene, deren Zeuge er war, sowie der nur wenig später erfolgte Tod des Jägers, schwächen das Immunsystem des  Jungen so sehr, daß er für längere Zeit mit Diphterie bettlägrig wird. Weitgehend genesen erhält er Privatunterricht vom Lehrerfräulein Rauch und erfährt erstmalig und zutiefst die Sehnsucht nach Liebe, die aber angesichts seiner allenfalls halben Volljährigkeit rechtmäßig nicht zu genießen ist. Die empathische Mimesis, so wie sie uns vorgeführt wird, ist eine geminderte, spielerische, vielleicht sogar eine wenig schauspielerische Mimesis, ein leichtfüßiges Doppelgängerspiel, ein mimetischer Tanz.

Sonntag, 1. April 2018

Tsé Bit' A'í

SPQR

In der Erinnerung bleibt der Eindruck, man habe auf Tiepolos Bild von der Kreuztragung entgegen aller Vernunft ein Schiff erblickt, und alle, die zu sehen sind, Jesus selbst, seine Begleiter, die Kriegsknechte, die Pferde, seien dem Schiff entstiegen. Wie aber hätte das sein können, welches Gewässer sollte das Schiff in der unmittelbaren Nähe des Kalvarienbergs befahren haben? Ohne Wasser unterm Kiel aber, das müßte ein Geisterschiff sein. Man sucht das Bild hervor, betrachtet es erneut, kein Schiff, aber der Kalvarienberg selbst erscheint als versteinerte Arche, Tsé Bit' A'í, Ship Rock in der Sprache der Christen. Auf der linken Seite in Fahrtrichtung ein weißes Bei- oder Rettungsboot moderner Bauart mit einer nicht gleich zu entziffernden Aufschrift: S …, vielleicht Sloop John B? Nein, es ist kein Schiff, keine Schaluppe, sondern eine am Felsen angebrachte großflächige Standarte mit der Aufschrift SPQR, Ausweis der staatlichen Berechtigung, Kreuzigungen aller Art sachgerecht vorzunehmen, licentia crucifigere. Was bleibt - und daran hält man fest - ist die Möglichkeit, ursprünglich in einem unbewachten Augenblick ein anderes Bild gesehen zu haben, ein Bild, das gerade der Jäger Gracchus mit seinem trostlosen Kahn durchquert, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen, oder, eher noch, der anlandende, von einer Schiffahrtsgesellschaft übernommene und seither zweckentfremdet eingesetzte, zu jeder Mission bereite dreistöckige Kasten des Noah, Ararat und Kalvarienberg verwechselt.