Montag, 12. März 2018

Eine Episode

Schutzbedürftig

Aus Kafkas Leben wird auf gut zwanzig Seiten nur eine Episode, erzählt, die sich über ungefähr einen Monat hinzog, und doch sehen wir sein ganzes Leben vor uns, das eine andauernde und gleichbleibende Verzweiflung war. Gereist ist Kafka meist in Begleitung seines Freundes Max Brod, dieses Mal, in Oberitalien, ist er allein und in besonderem Maße schutzbedürftig. Der Erzähler begleitet ihn im Tonfall unauffälliger Sorge, nichteingreifendes Geschehenlassen ist ohnehin sein üblicher Habitus, donner un nom à ce qui nous environne et passer outre die Devise, zu helfen war Kafka, wie zuvor Kleist, in keinem Fall.

In mancher Hinsicht ist Kafka das genaue Gegenteil von Beyle, etwa was die öffentliche Darstellung anbelangt. Als Beyle die neue Uniform, bestehend aus hirschledernen Hosen, einem vom Nacken bis zum Scheitel mit gestutztem Roßhaar besetzten Helm, Stiefeln, Gürtelschnallen, Brustriemen, Epauletten und Rangzeichen überzog, da war er, wie er den Augen der Mailänder Frauen ablesen zu können glaubte, von Grund auf und sehr zu seinem Vorteil verwandelt. Für einen unauffällig und inkognito geplanten Auftritt schienen ihm gar ein gelber Rock, dunkelblaue Beinkleider, schwarz lackiertes Schuhwerk, ein extrahoher Velourshut und ein paar grüne Brillen die richtige Wahl zu sein. Kafka will nicht gesehen werden. Und doch ist er, wie es ihm scheint, obwohl er absagt, wo er nur kann, immer mit schrecklich vielen Leuten beisammen. Absence! Tu seras ma seule gloire. Gegen Abend kamen immer mehr Menschen offenbar zu nichts anderem als zu ihrem Vergnügen auf die Straße. Die Demonstration des Unbeschwertseins und des Zusammengehörens der Veroneser Bevölkerung erschien ihm wie eine Theaterveranstaltung, eigens dazu inszeniert, ihn auf seine Vereinzelung und Abartigkeit hinzuweisen. Nicht einmal mit sich selbst ist er eins, befremdet steht er neben sich. Am liebsten wäre er ohnehin nur sein eigenes, für niemanden sonst sichtbares Spiegelbild. Auch was die Frauenliebe anbelangt, könnte, wie es scheint, der Unterschied zwischen den beiden Italienreisenden größer nicht sein. Beyle ist gradheraus und zielbewußt und führt eine Liste der Damen, die ihm ihre Gunst gewährt haben, Kafka versucht der Tischnachbarin, einer Schweizerin aus Genua, seine Theorie der körperlosen Liebe schmackhaft zu machen. Beyle hat seine erotische Auflistung allerdings nicht mit Tinte auf haltbarem Papier verfaßt, sondern mit einem Stab in den Staub gezeichnet, keinem Windstoß gewachsen. Die von ihm geschilderte Reise an den Gardasee unternimmt er in Begleitung der imaginären und insofern körper- und schwerelosen Mme Gherardi. In Riva treffen zwei Gespenster, Beyles Reisebegleiterin und Kafkas Gracchus, G&G die Initialen, aufeinander, keine glückliche Begegnung. Vom Anblick des schweren alten Kahns, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln und mehr noch von der nach dem Ankern an Land getragenen Bahre war Mme Gherardi so ungut berührt, daß sie darauf bestanden hatte, ohne jeden weiteren Verzug aus Riva abzureisen. In ihrer fortdauernden Verdrießlichkeit zeigt sie sich wenig aufgeschlossen für Beyles Theorie der Liebe als einer Art der Kristallisation. Wie weit sich die Genuesin von Kafkas amouröser Theoriearbeit überzeugen ließ, ist schwer abzuschätzen. Der Umstand, daß sie beim Abschied weint, läßt sich so oder auch anders deuten.

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