Freitag, 9. Februar 2018

Schleierlegende

Obere Bildhälfte

Das kleine, vielleicht 30 mal 50 Zentimeter messende Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind, so beginnt Sebald seine Betrachtung des San Giorgio con capello di paglia in der Darstellung Pisanellos. Die Madonna hat den Himmel für sich, unten am Boden regeln der heilige Antonius und der heilige Georg ihre Angelegenheiten. Ganz anders, was die Position der Madonna anbelangt, Rueland Frueaufs d.J. Bild von der Auffindung des Schleiers. Im oberen Teil ist der blaue Himmel völlig frei und unbewohnt, der Scheitel der Gottesmutter erreicht nicht ganz die Höhe des aufmüpfigen Baumwipfels weiter links, die heiligen Lichteffekte über dem Scheitel überragen die Spitze des Baums um eine Winzigkeit. Der Helmbusch des zweiten Reiters reicht höher als das Niveau der göttlichen Füße, ein Unding, offensichtlich hat die Madonna ihre endgültige Position noch nicht erreicht. Sie wird noch höher auffahren und zugleich weiter in den Vordergrund schweben, den Himmel ausfüllen, wie sie es schon bei Pisanello getan hat, und dabei auch den ärgerlichen Baum verdecken. Die beiden Reiter werden noch ein Stück weiterreiten, vom Pferd steigen und andächtig Position beziehen hinter dem bereits anbetend danieder knieenden König. Rueland hat den flüchtigsten Augenblick vor dem eigentlichen Bild gemalt, das Bild hinter dem gemalten Bild zu vollenden fällt dem Betrachter als Aufgabe zu. Der Bildanlaß, die Geschichte mit dem wieder aufgefundenen Schleier, den zuvor ein übler Wind der Fürstin vom Kopf gerissen hatte, ist unbedeutend, geradezu läppisch, ein Wunder und unser Glück, daß die Himmelskönigin ungeachtet ihres sicher sehr engen Terminkalenders eigens für diese Petitesse von weit her angereist ist.

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