Freitag, 5. Januar 2018

Enge

Break

Die Krummenbacher Kapelle war so klein, daß mehr als ein Dutzend nicht auf einmal darin ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten: hätte der Wanderer die Tür zur Kapelle geöffnet und dort elf Andächtige vorgefunden, um keinen Preis der Welt wäre er in das Gotteshäuschen eingetreten. Auch sechs Andächtige hätten ihn abgeschreckt und selbst noch drei. Einen einzelnen Andächtigen hätte er vielleicht akzeptiert, und womöglich wäre es gar zu einem Gedankenaustausch gekommen, ähnlich wie mit anderen Zufallsbekanntschaften, dem Venezianer Malachi etwa oder dem Holländer Cornelis de Jong. Mehr als einem, allenfalls zwei Gesprächspartnern gleichzeitig ist der Dichter nicht gewachsen. Beim Besuch des Onkels Kasimir und der Tante Lina redet er mal mit dem einen und mal mit der anderen, kaum je mit beiden gleichzeitig. Bei drei Personen beginnt das Publikum, sich unter ein Publikum zu begeben aber wurde dem Dichter, wie er freimütig bekennt, von Jahr zu Jahr unmöglicher. Seine Scheu vor vielen Menschen auf engem Raum geht womöglich auf eine sorgsame Lektüre Dostojewskis zurück, der immer wieder Menschengedränge mit explosiven Resultaten inszeniert. Am beeindruckendsten ist fraglos das zweistufige Fest – mit einem Publikum, unter das sich der Dichter weder für Geld noch für gute Worte gemischt hätte - beim Gouverneur in den Dämonen (Бесы), ein Fest, das in ein völliges Debakel mündet. Nun ist es nicht so, als wüßte Dostojewski nicht, was er tut, welche Gefahren er heraufbeschwört. Unter der Leitung des Pjotr Werchowenski läßt er eine ganze Crew an dem Ruin der Veranstaltung arbeiten und behält sich selbst mit unverkennbar perversem Genuß die künstlerische Gesamtleitung vor.

Da das Fest in den weitläufigen Fluchten der Gouverneursresidenz abläuft, ist räumliche Enge allerdings nicht der Auslöser des Desasters. Eine in einen Eklat mündende Szene extremer Beengung findet in Schuld und Sühne (Преступление и наказание) statt. Raskolnikows Quartier ist so klein, daß kaum mehr als ein Gast darin Aufnahme finden konnte, versammelt sind aber, abgesehen von dem krank auf dem Diwan ruhenden Raskolnikow selbst, schon drei, nämlich der Arzt Sossimow, die Dienstmagd und Rasumichin, der Studienfreund. Man stand so dicht gedrängt, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte, wie es an einer anderen Stelle heißt. Und dennoch drängt sich zusätzlich Luschin hinein, der Bewerber um die Hand der Schwester Raskolnikows. Zweifellos wäre auch ein ungestörtes Zwiegespräch zwischen Raskolnikow und Luschin nicht glimpflich verlaufen, in der Enge des Raums aber ist die Katastrophe nicht nur unausweichlich, sie wird zudem von Rasumichin und dem Arzt ähnlich kunstvoll orchestriert wie die Überführung des Festes beim Gouverneur in ein tödliches Chaos durch Werchowenski und seine Spießgesellen. Die kunstreichen Manöver machen den Leser zum Komplizen, rechtfertigen kann er sich damit, daß die Opfer es nicht anders verdient haben, auch wenn es das Gouverneursehepaar ein wenig zu hart trifft – aber wer will da kleinlich mäkeln. Razumichin beweist überdies parastrategische Fähigkeiten, letztlich wird er Raskolnikows Schwester Dunja heiraten, die er vorerst noch gar nicht kennt. Wer, wie der Dichter, krisenhafte Begegnungen auf engem Raum scheut, bringt sich damit auch um die Chance gelungener Eheanbahnungen. Er nimmt es billigend in Kauf. Dichte ist das Hauptmerkmal unserer Weltform, diagnostiziert Sloterdijk, und sie ist, würden einige ergänzen, unser großes Leid. Die so denken hören im Werk des Dichters ständig das leise aber beharrlich gesprochene, aus dem Boxsport bekannte Kommando: Break!

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