Freitag, 15. Dezember 2017

Christliche Seefahrt

Treibende Kraft

Die christliche Seefahrt war, wie Sloterdijk betont, neben dem Buchdruck etwa oder dem Einsturz des ptolemäischen Weltgebäudes, ein hervorstechender Klang beim Einläuten von Neuzeit und Globalisierung. 1492 war ein entscheidendes Jahr, Kolumbus entdeckte Amerika und Behaim entwarf den ersten Globus. Man konnte dieses Artefakt betrachten und sehen, wie unsere Wohngegend rundum beschaffen ist. Behaim soll Kolumbus bei der Wahl seiner Route beraten haben. Die transozeanische Personenschiffahrt ist, abgesehen vom Gondeln der Kreuzfahrer, inzwischen abgeflaut, der interkontinentale Warenhandel aber wird in der Gegenwart ganz überwiegend per Schiff abgewickelt. Seit 1492 trennen sich immer stärker diejenigen, die den globalen Neuerungen zujubeln, und die, die unter ihnen leiden. An den Wänden des Wartesaals für die auswanderungswilligen Passagiere hingen große Ölbilder der zur Flotte des Lloyd gehörenden Ozeandampfer. Ein jeder dieser Dampfer befand sich in voller Fahrt von links hinten nach rechts vorn, ragte ungeheuer weit mit dem Bug aus dem wogenden Meer empor und vermittelte so den Eindruck einer unaufhaltsam alles vorantreibenden Kraft. Naturgemäß ist vor allen anderen den Profiteuren der Entwicklung nach Jubel zumute, die zahlenden Passagiere sind nicht im gleichen Maße begeistert. Es war eine Überfahrt mitten durch die Februarstürme hindurch, und es ist zum Fürchten gewesen, wie die Wellen sich aus der Tiefe hinaushoben und wieder zurückgerollt kamen. Ringsherum nur schwarzes Wasser, tagaus und tagein, und das Schiff, wie es schien, die ganze Zeit auf demselben Fleck, eine vernichtende Empfindung für Reisende aus dem tiefsten Landesinneren, denen es als Kind bereits grauste, wenn sie beim Eisstockschießen auf dem Froschweiher zuschauten und auf einmal an das Dunkel denken mußten unter ihren Füßen. Weniger eine Fahrt über das Meer als ein Blick in den Abgrund, ja, wenn man wandeln könnte mit sicherem Tritt über die Wellen, diesen Kunstgriff aber hat der Herr - wie man annehmen kann: wohlweislich - für sich reserviert. Aller Seefahrt zum Trotz, der Mensch ist nicht gemacht für das Wasser und die endlose Weite der Ozeane. Die Reisenden waren denn auch größtenteils seekrank, erschöpft, mit glasigem Blick oder halbgeschlossenen Augen lagen sie in ihren Kojen. Andere hockten am Boden, standen stundenlang an eine Wand gelehnt oder wankten wie Schlafwandler in den Gängen herum. 

Nach einem jahrzehntelangen Leben in Amerika fährt der Emigrant mit dem Auto die knapp zwanzig Meilen bis an den Atlantik hinunter so langsam, wie man auf einer freien Strecke noch nie jemanden hat fahren sehen, die vorantreibende Kraft so gering wie möglich. Am Ziel angekommen, schaute er aufs Meer hinaus. Das ist der Rand der Finsternis, und wirklich schien es, als sei das Festland versunken und als ragte nichts mehr aus der Wasserwüste heraus außer diesem schmalen Streifen Sand. Das Trauma des überquerten Ozeans währt offenbar lebenslang.

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