Montag, 9. Oktober 2017

Schlaflos

Wächter vonnöten

Wenn der Dichter von einer besonders unguten Nacht spricht, muß man annehmen, daß seine Nächte durchweg nicht gut verlaufen. Tatsächlich wird die vollendete Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube in Verona erfährt, als wahres Weltwunder gehandelt. Er macht während seiner Reisen kaum Anstalten, sich nach Alternativen umzuschauen, die Nacht anders zu verbringen, obwohl doch eine Stadt wie Wien etwa zahlreiche Möglichkeiten bietet, die Nacht, wie man sagt, zum Tag zu machen. Wenn vielleicht auch erst zu später Stunde, kehrt er doch immer in sein Hotelzimmer zurück. Den Fernseher getraut er sich schon nicht mehr anzustellen, obwohl es zumindest mit der Option lautlos ohne weiteres möglich wäre. Er sieht der Tortur einer unguten Nacht entgegen und fällt oft erst in den Morgenstunden in einen wenig erquickenden Schlaf. Im Hotel in Southwold macht er im übrigen die Erfahrung, daß das Fernsehen durchaus hilfreich sein kann. Kaum hat er den Apparat eingeschaltet und es sich in dem grünen Samtfauteuil bequem gemacht, ist er auch schon in einen tiefen Schlaf gesunken.

Austerlitz geht anders vor. Mehr als ein Jahr lang, berichtet er, bin ich bei Einbruch der Dunkelheit außer Haus gegangen, man kann ja tatsächlich in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen. Überall in den zahllosen Häusern, in Greenwich geradeso wie in Bayswater oder Kensington liegen die Londoner jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst auf dem Weg durch die Wüste. – Es ist ein von Kafka entliehener Text*, der uns so unvermittelt aus dem Herzen der modernen Großstadt London zurückführt in die Tiefe der Vor- und Wüstenzeit. Wüstenvisionen sind dem Dichter nicht fremd, immer wieder ziehen die Wüstensöhne mit ihren Karawanen durchs Bild, in der Pariser Nationalbibliothek ruhen sie aus von ihrer Mühsal, es schien, daß diese in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen hatten auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Nachtruhe finden sie dann in Kafkas Karawanserei.

Sloterdijk**, der gern eigene Wege geht, sieht eine Wächter- gemeinschaft als Urzelle der Zivilisation und berichtet von Heraklits Sorgen um die taghelle Polisgesellschaft. In der Stadtnacht droht die Welt unterzugehen, die Menschen hören auf Bürger zu sein und versammeln sich zu ihren Toten, am privaten Ort geben sie das Gemeinsame preis, sie schlafen, sie weinen, sie wälzen sich hin und her, sie träumen, jeder für sich. Zwischen Austerlitz' Worten aus dem Munde Kafkas und Heraklits Worten aus dem Munde Sloterdijks besteht ein seltsamer dunkler Gleichklang, er nimmt geradezu gespenstiges Ausmaß an, wenn wir Kafka ohne Austerlitz weitereden lassen: Und Du wachst, bist einer der Wächter, findest den nächsten durch Schwenken des brennenden Holzes aus dem Reisighaufen neben Dir. Warum wachst Du? Einer muß wachen heißt es. Einer muß dasein.

Die gleiche Konstellation von Schlafenden und Wachenden, hatte Kafka seinerseits Heraklit studiert? Es wäre bizarr, hätte Sebald Austerlitz von Kafkas neben den Schlafenden auch noch den Wächter übernommen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß wir insgeheim in Austerlitz ebenfalls einen Wächter sehen können, Wächter nicht der jungen Polis, sondern Wächter in einer von Auschwitz und Theresienstadt zerstörten Zivilisation. Schon Kafka aber scheint in die Erfolgsaussichten des Wächtertums keine großen Hoffnungen, einer muß dasein, das klingt nicht draufgängerisch. Worüber wacht Austerlitz, über dem, was noch sein kann oder über dem, was hätte sein können? So laß uns ruhig schlafen und unsern armen Wächter auch. Selysses findet zum seligen Schlaf in der Goldenen Taube, nachdem er sich von seiner Identität verabschiedet und die von Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck angenommen hat, Historiker im 19. Jahrhundert, als die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag noch schöne Blüten trieb, als, wie es schien, alles noch hätte ganz anders kommen können, als es dann gekommen ist. Das 20. Jahrhundert war nicht mehr zum Schlafen gemacht.

* Wie rühren wir an den Schlaf der Welt? In: Weltfremdheit
** Nachts, in: Die Erzählungen

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