Dienstag, 17. Oktober 2017

Moräne

Geschreddert

Zu Sloterdijks Manierismen zählt die Neigung, eine wenig bekannte historische Person oder ein wenig bekanntes historisches Ereignis zu nennen, um dann zur Beschämung des unkundigen Lesers zu behaupten, ohne diese Person oder ohne dieses Ereignis sei der weitere Verlauf der Geschichte in keiner Weise verständlich. Könnte man den Verlauf der Geschichte aber mit Kenntnis dieser Person oder dieses Ereignisses verstehen? Zielführender wäre wohl Honeckers bekannter Sinnspruch vom Ochs und vom Esel, hätte der Staatsmann ihn nur auf den Weltenlauf insgesamt bezogen und nicht auf den Sozialismus eingeschränkt. Im Vormärz damals, als, wie uns der Dichter ins Gedächtnis ruft, Gottfried Keller mit dem Schreiben begann, trieb die Hoffnung auf einen neuen Gesellschaftsvertrag schöne Blüten, stand die Verwirklichung der Volksherrschaft noch zu erwarten, hätte alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Es hätte wohl anders kommen können, aber sicher nicht so, wie man es seit 1789 erwartete, als man glaubte, die Geschichte auf Null stellen zu können, um sie fortan nach menschlichem Plan und gemäß den sogenannten menschlichen Bedürfnissen verlaufen zu lassen.

Die Schwindel.Gefühle sind ein Geschichtsroman, Stendhal steht für das frühe neunzehnte Jahrhundert, Kafka für das frühe und Selysses für das späte zwanzigste Jahrhundert. Mit dem Schlußsatz nimmt der Erzähler vorausschauend im einundzwanzigsten Jahrhundert den gleichen Zeitpunkt wie Stendhal und Kafka in ihrem jeweiligen Säkulum: 2013 – Ende -.

Mitte Mai des Jahres 1800 zog Napoleon mit 36 000 Mann über den Großen St. Bernhard – mit diesem Eingangssatz könnte auch ein Roman beginnen, in dem eine historische Person oder eine Gruppe historischer Personen im Vordergrund stehen, ein solcher Roman entwickelt sich aber nicht, es kommt auch in dieser Hinsicht ganz anders. Noch weniger lesen wir einen über mehrere Generationen geführter Familienroman vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung. Niemanden in diesem Buch hält es so recht an seinem geschichtlichen Ort, keiner ist an seinem Platz. Kafka ist dem in Oberitalien reisenden Erzähler, obwohl mehr als fünfzig Jahre sie trennen, immer nur einen Schritt voraus. Dante läuft, vom Dichter bemerkt und aufgespürt, durch das Wien unserer Tage, der Bayernkönig Ludwig hält sich in Venedig auf, der Heilige Georg hat wichtige Geschäfte in Mailand zu erledigen, der erst von Kafka erfundene Jäger Gracchus fährt mit seiner Barke, unter Nutzung der ihm angedichteten schon mehr als tausendjährigen Irrfahrt, bereits vor den Augen Stendhals in den Hafen von Riva ein. Beim Studium der zu Folianten gebundenen Veroneser Zeitungen des Jahres 1913 tritt nur disparates Zeug zutage. Der Geschichtsverlauf ist geschreddert. Nachdem er den Begriff der Geschichte in dieser Weise ad absurdum geführt hat, bekennt sich der Erzähler mit einigem Stolz als Historiker, Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck.

Die Menschheit formiert sich zum Unternehmen Geschichte mit der so unbegründeten wie unverrückbaren Erwartung eines Happy Endism, formuliert Sloterdijk der, Manierismen hin oder her, gern ins Schwarze trifft. Geschichte ist dem, was ohne Namen und ohne Begriff mit uns geschieht, nur aufgesetzt von Menschenhand, sie ist das, was in Luhmanns Diktion Semantik heißt. Für Gottgläubige war es mehr als fünfzehnhundert Jahre einsichtig, die Welt als im Wartezustand auf das Jüngste Gericht hin zu erleben, Hegel, Marx, einige andere und schließlich als Nachzügler Fukuyama zeichneten dann das glückliche Ende mit zivilen Mittel nach. Der Glaube an ein Happy End hienieden schrumpft inzwischen unaufhaltsam, das Bad End, zu welchem Zeitpunkt auch immer, ist so sicher wie immer schon das Amen in der Kirche. Der Dichter, liest man seine expliziten Äußerungen zum Thema, hätte dem in etwa zugestimmt

Den Weltengang, den Weltenlauf hält weder Ochs noch Esel auf, der Dichter hat eine andere Metapher parat: Sie kommen heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Ewigkeitsmoräne, viele Paare genagelter Schuhe und geschliffene Knochen, ein weites Feld voller Totengebein, und des Gebeins lag da viel, sie waren sehr verdorrt - das ist es, was dereinst noch zu sehen und zu deuten bliebe von der Menschheitsgeschichte.

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