Freitag, 1. September 2017

Zwiegestalt

Gewirr der Zeit

Im Oktober 1980 reist Selysses über Wien nach Italien in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Gemessen an diesem Ziel ist die Reise ein Fehlschlag, schon bald flieht er in panischem Schrecken aus Verona zurück über die Alpen. Sieben Jahre später, im Sommer 1987 wiederholt er, einem sich rührenden Bedürfnis nachgebend, die Reise, um die schemenhaften Erinnerungen an die damalige Zeit genauer zu überprüfen und vielleicht einiges davon aufschreiben zu können. Schon die Anreise selbst verbringt er zu einem guten Teil über seinen Aufzeichnungen, um sich dann in Venedig an der Fondamenta Santa Lucia einen halben Vormittag lang weiter mit ihnen zu beschäftigen. Das gesteckte Ziel der zweiten Reise ist offenbar bekömmlicher, auch diesmal geht es nicht ohne Unannehmlichkeiten ab, Panikattacken aber bleiben aus, nicht zuletzt dank der offenbar sedierenden Wirkung des Schreibens. In Limone breitet sich gar für eine kurze Weile der ewige Frieden aus. Er saß an einem Tisch nahe der offenen Terassentür, das Schreiben ging ihm mit einer ihn selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Hinter der Theke war ein großer Wandspiegel eingelassen und so konnte er zu seiner besonderen Genugtuung sowohl Luciana als auch das Abbild Lucianas betrachten. Als um die Mittagszeit die Gäste von der Terrasse verschwanden, und auch Luciana ihren Posten verließ, ging es mit dem Schreiben schwerer und schwerer. Eine bis zum Ende der Erzählung fortdauernde positive Wirkung hat demgegenüber der Verlust des Passes, der sich am Tag der Abreise als unauffindbar erweist.

Die Begegnung mit aus touristischen Gründen in Limone weilenden Landsleuten hatte beim Erzähler den Wunsch erweckt, dieser Nation nicht anzugehören, am besten gar keiner Nation, mit dem Verlust des Passes ist er diesem Ziel spürbar nähergekommen. Nur unter Zwang fast schon läßt er sich von Luciana zwecks Ausstellung einer Verlustbescheinigung zum Polizeikommandanten fahren, den ausgehändigten Beleg deutet er als Trauschein, der es Luciana und ihm erlaubt, miteinander hinzufahren, wo sie wollen, eine weitere wichtige Zivilstandsänderung. Im Warteraum des Konsulats in Mailand trifft er auf einen Artisten namens Giorgio Santini, der den Hut des San Giorgio in der Hand hält. Schon während der 1980er Reise war er gleich in Wien auf eine Reihe solcher Zwiegestalten gestoßen, auf die Mathild Seelos, den Dorfschreiber Fürgut, beide längst tot, und als Krönung, in der Gonzagagasse, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante. Mit seinem Paß erhält er, wie er mit einem Hauch von Ironie bemerkt, die Freizügigkeit zurück, versteht er darunter doch auch einen freizügigen Umgang mit dem Dokument. In der Goldenen Traube in Verona legt er den Ausweis nicht vor und trägt sich ein als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck, nun zählt auch er zu den Zwiegestalten. Naturgemäß weiß niemand in dem Hotel, wer Fallmerayer ist oder war, und doch bereitet man ihm geradezu eine Willkommensfeier. Der von der Statur an Bruckner erinnernde Portier und die eigens herbeigeeilte Geschäftsführerin behandeln ihn wie einen seit langem erwarteten und nun endlich eingetroffenen Ehrengast, die Nachtruhe grenzte, wie auch das anschließende Frühstück, ans Wunderbare. Die aus der Oper Aida auf den letzten Seiten der Erzählung sich entfaltende orientalische Welt ist er als Fallmerayer bestens vorbereitet.

Bei seinen Aufzeichnungen handele es sich um einen Kriminalroman, und auch sie käme darin vor, läßt Selysses Luciana Michelotti wissen. Der ursprüngliche Plan, bei der zweiten Reise über die erste zu schreiben ist, wenn nicht aufgegeben, so doch erweitert. Erleben und Schreiben sind inzwischen weitgehend synchron, vielleicht geht bald das Schreiben dem Erleben voraus. Die diachrone Zwiegestalt des Erzählers von 1980 und des Erzählers von 1987 ist aufgehoben, gleichzeitig macht der Paßverlust in Limone die synchrone Zwiegestalt von Erzähler und Fallmerayer möglich. Es ist freilich, wenn man so sagen kann, eine diachrone Synchronizität, Fallmerayers Lebensdaten liegen näher bei Stendhal noch als bei Kafka. Selysses ist endgültig eingetaucht in das Gewirr der Zeit.

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