Sonntag, 17. September 2017

Erblasser

Genealogie

On a vu le testament, rien pour personne, Beckett, keiner hat es je schöner gesagt. Wie man hört, hat er selbst alles getan, den Tabula rasa-Zustand zu erreichen, indem er sein Geld nach allen Seiten verschenkt hat, erfolglos allerdings, Godot besonders war eine ständig sprudelnde Vermögensquelle und ist es vielleicht heute noch. Wenn er mit Godot God gemeint hätte, so Beckett, hätte er God geschrieben, auch beim Testament wäre dann wohl der assoziative Ausflug ins Himmlische untersagt, aber wie weit kann man den Aussagen der Dichter zu ihren Werken trauen?

Erbschaftsfragen stehen in Sebalds Prosa nicht an vorderer Front. Die Helden sind nicht reich, Selwyn sieht sich als almost a pauper, und sie haben keine Kinder oder nahe Verwandte als natürliche Erben. Anders sieht es aus in den Texten, die zurückkehren zum Beginn des letzten Jahrhunderts. Cosmo Solomon, Böses ahnend, bemüht sich, an Plätzen wie Saratoga Springs in Luxushotels wie dem Breakers, dem Poinciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld durchzubringen, offenbar um bei Antritt seines Erbes eine Situation anzutreffen, wie von Beckett festgehalten. Seine Anstrengungen bleiben ohne Erfolg, und sein Ende ist nicht beneidenswert. Im Hause Quilter ist man erfolgreicher. Was für kühne Pläne hätte ein Mann wie Quilter, angespornt von einem Gleichgesinnten wie Kaiser Wilhelm nicht noch entwickelt, den Plan etwa von einem von Felixstowe über Norderney bis nach Sylt reichenden und der allgemeinen Ertüchtigung dienenden Frischluftparadies. Dann aber verlor der deutsche Kaiser sein Reich und Quilter sah seine als unerschöpflich scheinenden Mittel in einem Maße zusammenschrumpfen, daß eine sinnvolle Bewirtschaftung der Liegenschaft nicht mehrmöglich war. Sein Sohn Raymond Quilter verkaufte das Anwesen Bawdsey Manor 1936 an den Staat und bezog als Wohnung das ehemalige Quartier des Chauffeurs. Bald schon nannte der leidenschaftliche Flieger, der einst das Ferienvolk von Felixstowe durch sensationelle Fallschirmansprünge über dem Strand beeindruckt hatte, nichts mehr sein eigen als sein Flugzeug und eine Startbahn auf einsamen Feld. Beide Fälle, Solomon und Quilter, sind nicht geschildert als der Verfall einer Familie über Generationen hin, eine Erbschaftskette wird nicht sichtbar geschweige denn ein verzweigtes Erbschaftsnetz. Der Schritt hin zu den erbenlosen Bewohnern der Gegenwart ist bereits vorbereitet.

Zu den Erbenlosen gehört in gewissem Sinne auch der König der Erblasser im Werk, der Major Le Strange, der sein sehr bedeutendes und schon seit langen Jahren ungenutztes Vermögen seiner Haushälterin Florence Barnes, die, beyond wanting to buy a bungalow in Beccles for herself and her sister, had no idea what to do with it. Daß die Schwestern in der Folge eine Kreuzfahrt nach den anderen absolviert haben, ist unwahrscheinlich. Mrs. Barnes ist jetzt in ihren Achtzigern und sicher noch rüstig, man könnte sie fragen, was mit dem unverbrauchten Erbe nach ihrem Ableben geschehen soll. Vielleicht überläßt sie das Vermögen dem immer bedürftigen Königshaus, es wäre dann auch verfallen. Sloterdijk* sieht im Testament den Dreh- und Angelpunkt der traditionalen Gesellschaft. Und weiter: Die Menschheit läßt das vom genealogischen Prinzip dominierte Weltalter hinter sich und tastet sich unter ungeheuren Krisen vorwärts in eine synchronische Seinsweise, in der die gleichzeitig Lebenden füreinander wichtiger werden als die bisher identitätsverleihenden eigenen toten Vorfahren. Wohin das Dasein einer horizontal vernetzten Menschheit in einer realisierten planetarischen Synchronie die Menschen führen wird, das kann auch mit der größten anthropologischen Phantasie niemand voraussagen. – Wollte man den Erzählungen des Dichters eine Aussage abgewinnen, würde sie ähnlich lauten.

Der Dichter ist selbst Legatar, die ihm in zunehmenden Maße wichtig werdende hochgradig diversifizierte Bibliothek der Mathild ist nach deren Tod in seinen Besitz gekommen. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Was braucht es mehr?

*Warum trifft es mich? In: Weltfremdheit

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