Freitag, 22. September 2017

Bewunderung

Eine Brücke, ein Steg

Sergio Chejfec schreibt: Sebald bringt uns zurück zu einer eigentlich seit langem verlorenen Position, die der Bewunderung und der reinen ästhetischen Freude. Sebald selbst hatte seine wissenschaftliche Laufbahn nicht unter dem Zeichen der Bewunderung begonnen, beeindruckt von der damals an den philosophischen Fakultäten grassierenden sogenannten Kritischen Theorie hatte er stattdessen für seine ersten Untersuchungen geignete Opfer möglichst beißender Kritik gewählt. Als er dann schon den Fuß gehoben hatte für den Schritt vom Literaturwissenschaftler zu Literaten, wurde mit Logis in einem Landhaus ein Buch veröffentlicht, das auch den Titel Bewunderungsübungen tragen könnte.

Exercises d’admiration, unter diesem Titel sind bei Cioran die Porträts von rund einem Dutzend Autoren versammelt, unter denen Sebald, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als Literat noch gar nicht geboren war, naturgemäß nicht vertreten ist. Hätte er gepaßt in die Sammlung, hätte Cioran ihn bewundert? Einerseits begegnen wir Autoren wie Scott Fitzgerald, an die man, so wie Ciorans Vorlieben einzuschätzen sind, nicht gleich gedacht hätte, andererseits Autoren wie de Maistre und Beckett, die nicht fehlen konnten. Am Beispiel des blutrünstigen Joseph de Maistre führt Cioran vor, wie man einen Autor bewundern kann, der nach allen geltenden Maßstäben, und nicht weniger nach Ciorans Maßstäben, nur zurückzuweisen ist, in der Gestalt Becketts bewundert er einen Freund im Leben und im Geist. Unwissentlich baut Cioran eine Brücke von Beckett zu Sebald, Je ne suis pas spécialement requis par la philosophie de Wittgenstein mais j’ai und passion pour l’homme. Sebald hat sich nicht nur sinngleich, sondern fast wortgleich zu dem österreichischen Philosophen geäußert. Cioran fährt fort, Plus d’une fois j’ai trouvé des traits communs entre lui et Beckett. Deux apparitions mystérieuses, deux phémomènes dont on est content qu’ils soient si déroutants, si inscrutables. Ausgehend von dem Rucksack gleicher Sorte, mit denen beide unzertrennlich verbunden waren, macht sich Sebalds Erzähler seinerseits Gedanken über die auffallende Ähnlichkeit zwischen Austerlitz und Ludwig Wittgenstein, über den entsetzten Ausdruck, den sie beide trugen in ihrem Gesicht. So nahe, wie Austerlitz ihm steht, geht die Ähnlichkeit auch auf den Autor selbst über. Was aber wäre über den sie mittelbar verbindenden Wittgenstein hinaus das Verbindende zwischen Beckett und Sebald? Auch große Unterschiede können sich als Gleichheiten erweisen.

Beide sind Feinwerktechniker der Sprache, Beckett in einer kargen und immer karger werdenden Landschaft, Sebald in der Üppigkeit der Sätze. Beide sind Meister der Bewegung, bei Sebald sind es großräumige, zum Teil interkontinentale Bewegungen, bei Beckett werden die Bewegungen immer geringfügiger, tendieren zu Stillstand und hören doch nie ganz auf. Selbst die Menschen im Kegel des Dépeupleur, un corps par mètre carré soit un total de deux cents corps chiffre rond, sind, abgesehen von einer kleinen Minderheit endgültig Resignierter, so rast- wie hoffnungslos unterwegs. In Sebalds Prosawerk nimmt die Bewegung gleich zu Beginn, in Wien, becketthafte Züge an. Die ebenso endlosen wie leeren Gängen führten über ein eher enges Areal nicht hinaus, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen äußerste Spitzen in der Venediger Au hinter dem Praterstern beziehungsweise bei den großen Spitälern des Alsergrunds lagen. Hätte man die Wege, nachgezeichnet, es wäre der Eindruck entstanden, es habe jemand hier auf einer vorgegebenen Fläche immer neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue stets am Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden. – Ein nicht vorhandenes und doch unüberwindliches Hindernis, die genaue geometrische Vermessung des gefängnishaften Bezirks, wäre es dem Erzähler nicht schließlich doch gelungen, aus dem Zirkel auszubrechen, hätte Sebalds Prosa zwangsläufig die von Beckett vorgegebene Richtung genommen.

Donnerstag, 21. September 2017

Anachoret heute

Privatklöster

Wohin gehen die Mönche, fragt Sloterdijk, wohin gehen sie heute, da kein öffentlicher Bedarf mehr an ihrer Berufsgruppe besteht. Am Anfang waren sie in die syrische Wüste gegangen. In der Wüste ist die wahrnehmbare Welt gleichsam auf ihrem Nullpunkt, und so ist es einfach, sie aus dem Dreiecksverhältnis von Welt, Mensch und Gott zu entfernen, um so, hoch oben auf der Säule, in extremer Askese die innigstmögliche Zweisamkeit von Mensch und Gott zu erreichen. Eine Einschränkung besteht darin, daß die Styliten als zu bestaunende Glaubensartisten eine Art frühen Wüstentourismus auslösten und die Welt damit zurückholten an den Sockel der Säule. Bei Kafkas Hungerkünstler dann hat nur noch das Zirkusmoment überlebt. Im Gang der Geschichte wurden die extravaganten Einzelkünstler des Glaubens abgelöst durch die insgesamt moderatere Form der christlichen Ordensgemeinschaften. Inzwischen aber sind auch die Klöster, gemessen an ihrer großen Vergangenheit, bedeutungslos.

Benn teilte die Bevölkerung, bei ausgeschlossenem Dritten, in Mönche und Verbrecher, die meisten würden konzilianter von Tatmenschen sprechen. Die Verbrecher sind innerhalb Benns strenger Ordnung zweifellos in der Überzahl, ohne daß andererseits die Zahl der mönchisch Veranlagten gering wäre. Wohin aber gehen die Mönchsanwärter, die sich die regulären Klöster nicht mehr zumuten wollen? Sebald, dessen Prosa fast ausschließlich Menschen bewohnen, die dem Mönchslager zuzurechnen sind, eröffnet ihnen Perspektiven. Le Strange verwandelt seinen Gutshof in ein Privatkloster mit ihm selbst als einzigem Insassen (die Haushälterin Florence Barnes ist der Ordensdisziplin mit Ausnahme des Schweigegelübtes bei Tisch nicht unterworfen). Ständig umgeben von Federvieh am Boden und in der Luft nähert er sich dem Erscheinungsbild des heiligen Franziskus, bis heute der populärste mittelalterliche Ordensvater, und erreicht schließlich als Höhlenbewohner über die Ähnlichkeit mit dem heiligen Hieronymus den Status eines spätantiken Anachoreten. Le Strange repräsentiert in seiner Person und seinem Verhalten wesentliche Etappen des europäischen Mönchstums, so wie Tiere – darunter Menschen – anatomische Erinnerungen an vergangene evolutionäre Stadien mit sich tragen.

Wem aber wendet sich der im Zweifelsfall gottloser Mensch unserer Tage zu, wenn er sich von der Welt abgewandt hat? Auch Houellebecqs Jed Martin bezieht sein Privatkloster, das Klostergebäude ist bescheidener als das Le Stranges, der umgebende Zaum umso eindrucks- und wirkungsvoller. Die Menschheit ist ausgeschlossen, die Kunst ist zugelassen, ein Drittes ist also da, die Produktion nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Kunstwerke setzt Martin auch in seinem Kloster fort. Das führt uns zu Sebalds Maler Aurach, der sein Atelier zur Mönchszelle macht, allerdings im offenen Vollzug sozusagen, Freunde können ihn besuchen, sein Abendbrot ißt er in einem von einem Massaihäuptling geleiteten Restaurant. Zur Glückseligkeit verhilft die Kunst den Malern nicht. Sloterdijk zitiert Nietzsche, demzufolge die Kunst lediglich dabei helfe, an der Wahrheit nicht zugrunde zu gehen, und es ist noch nicht einmal sicher, ob das für den Künstler gilt oder für uns, die Betrachter, Hörer, Leser. Auf der Rezipientenseite treffen wir Salvatore Altamura als den Bewohner eines immateriellen Klosters. Seinem Bedürfnis zu lesen wisse er um diese Tageszeit einfach keinen Widerstand entgegenzusetzen, er rette sich in die Prosa wie auf eine Insel, wie auf den Berg Athos. Auf Korsika folgt Selysses den Spuren Napoleons, einem der maßgeblichen Verbrecher, die steinernen Burgen in Ajaccio aber scheinen ihm wie geschaffen für anachoretisch gestimmte Bewohner, die sich mit nichts anderen beschäftigen als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit – eine denkbar weitgehende Annäherung an die asiatischen Weisheitslehren. Selwyn, Bereyter, Adelwarth, Austerlitz, Garrard e tutti quanti sind, auch wenn sie vielleicht keine offenkundigen mönchischen Merkmale aufweisen, Mönche nach Benns Maßstab. Unter dem Auge des Dichters, das auf allen ruht, bilden sie eine über die Welt verstreute Bruderschaft.

Bei seiner Einteilung hat Benn wohl nur an die Männer gedacht, Frauen sind eine eigene Gattung, naturgemäß keine Mönche, immerhin aber gab und gibt es Nonnen, und die Mathild Seelos ist der einzige Bewohner des Prosawerks mit realer Klostererfahrung. Unmittelbar vor dem ersten Krieg war sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen. Sie hat sich dann einige Monate lang, in der roten Zeit, in München aufgehalten, bei den Revolutionären, den Verbrechern also, ohne daß es ihr dabei besser ergangen wäre. In einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand ist sie schließlich nach Haus zurückgekehrt, hat aber bald ihr Gleichgewicht wiedererlangt und zu ihrer wahren Gestalt gefunden, die uns so sehr beeindruckt, ohne daß wir sagen könnten, was sie ausmacht, und worin sie besteht.

Sonntag, 17. September 2017

Erblasser

Genealogie

On a vu le testament, rien pour personne, Beckett, keiner hat es je schöner gesagt. Wie man hört, hat er selbst alles getan, den Tabula rasa-Zustand zu erreichen, indem er sein Geld nach allen Seiten verschenkt hat, erfolglos allerdings, Godot besonders war eine ständig sprudelnde Vermögensquelle und ist es vielleicht heute noch. Wenn er mit Godot God gemeint hätte, so Beckett, hätte er God geschrieben, auch beim Testament wäre dann wohl der assoziative Ausflug ins Himmlische untersagt, aber wie weit kann man den Aussagen der Dichter zu ihren Werken trauen?

Erbschaftsfragen stehen in Sebalds Prosa nicht an vorderer Front. Die Helden sind nicht reich, Selwyn sieht sich als almost a pauper, und sie haben keine Kinder oder nahe Verwandte als natürliche Erben. Anders sieht es aus in den Texten, die zurückkehren zum Beginn des letzten Jahrhunderts. Cosmo Solomon, Böses ahnend, bemüht sich, an Plätzen wie Saratoga Springs in Luxushotels wie dem Breakers, dem Poinciana oder dem American Adelphi ungeheure Mengen Geld durchzubringen, offenbar um bei Antritt seines Erbes eine Situation anzutreffen, wie von Beckett festgehalten. Seine Anstrengungen bleiben ohne Erfolg, und sein Ende ist nicht beneidenswert. Im Hause Quilter ist man erfolgreicher. Was für kühne Pläne hätte ein Mann wie Quilter, angespornt von einem Gleichgesinnten wie Kaiser Wilhelm nicht noch entwickelt, den Plan etwa von einem von Felixstowe über Norderney bis nach Sylt reichenden und der allgemeinen Ertüchtigung dienenden Frischluftparadies. Dann aber verlor der deutsche Kaiser sein Reich und Quilter sah seine als unerschöpflich scheinenden Mittel in einem Maße zusammenschrumpfen, daß eine sinnvolle Bewirtschaftung der Liegenschaft nicht mehrmöglich war. Sein Sohn Raymond Quilter verkaufte das Anwesen Bawdsey Manor 1936 an den Staat und bezog als Wohnung das ehemalige Quartier des Chauffeurs. Bald schon nannte der leidenschaftliche Flieger, der einst das Ferienvolk von Felixstowe durch sensationelle Fallschirmansprünge über dem Strand beeindruckt hatte, nichts mehr sein eigen als sein Flugzeug und eine Startbahn auf einsamen Feld. Beide Fälle, Solomon und Quilter, sind nicht geschildert als der Verfall einer Familie über Generationen hin, eine Erbschaftskette wird nicht sichtbar geschweige denn ein verzweigtes Erbschaftsnetz. Der Schritt hin zu den erbenlosen Bewohnern der Gegenwart ist bereits vorbereitet.

Zu den Erbenlosen gehört in gewissem Sinne auch der König der Erblasser im Werk, der Major Le Strange, der sein sehr bedeutendes und schon seit langen Jahren ungenutztes Vermögen seiner Haushälterin Florence Barnes, die, beyond wanting to buy a bungalow in Beccles for herself and her sister, had no idea what to do with it. Daß die Schwestern in der Folge eine Kreuzfahrt nach den anderen absolviert haben, ist unwahrscheinlich. Mrs. Barnes ist jetzt in ihren Achtzigern und sicher noch rüstig, man könnte sie fragen, was mit dem unverbrauchten Erbe nach ihrem Ableben geschehen soll. Vielleicht überläßt sie das Vermögen dem immer bedürftigen Königshaus, es wäre dann auch verfallen. Sloterdijk* sieht im Testament den Dreh- und Angelpunkt der traditionalen Gesellschaft. Und weiter: Die Menschheit läßt das vom genealogischen Prinzip dominierte Weltalter hinter sich und tastet sich unter ungeheuren Krisen vorwärts in eine synchronische Seinsweise, in der die gleichzeitig Lebenden füreinander wichtiger werden als die bisher identitätsverleihenden eigenen toten Vorfahren. Wohin das Dasein einer horizontal vernetzten Menschheit in einer realisierten planetarischen Synchronie die Menschen führen wird, das kann auch mit der größten anthropologischen Phantasie niemand voraussagen. – Wollte man den Erzählungen des Dichters eine Aussage abgewinnen, würde sie ähnlich lauten.

Der Dichter ist selbst Legatar, die ihm in zunehmenden Maße wichtig werdende hochgradig diversifizierte Bibliothek der Mathild ist nach deren Tod in seinen Besitz gekommen. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun. Was braucht es mehr?

*Warum trifft es mich? In: Weltfremdheit

Dienstag, 12. September 2017

Namenträger

Unbenannt, umbenannt

Wertheimer, Friedländer, Auerbach, Grunwald, Blumenthal - die Namen auf den Grabmalen geben dem Erzähler den Gedanken ein, daß die Deutschen den Juden vielleicht nichts so mißgönnt haben als ihre schönen, mit dem Land und der Sprache, in der sie lebten, so sehr verbundenen Namen – in seiner stillen Absurdität ein schöner Gedanke. An Bord von Lems Raumschiff treffen wir den Koordinator, den Kybernetiker, den Ingenieur, den Physiker, den Chemiker, den Mediziner, Namen werden nicht genannt. Die Vermeidung von Mißgunst ist als Grund der verweigerten Namensnennung nicht anzunehmen. Auf Seite 42 wird der Ingenieur unversehens mit Henryku angeredet. Sein Nachname bleibt unbekannt und die Gefährten bleiben auch weiterhin komplett namenlos. Seltsam, sehr seltsam, wenn man es bedenkt. Henryk ist kein originär polnische Name es kann die polonisierte Form von Генрих, Henrikas, Anraí, Harri, Henri, Herri, Eanraig, Enrico, Enrique, Heinrich, Henrike, Ερρίκος und einigen anderen mehr sein. Die penible Aufzählung der Namensvarianten läßt an einige noch weitaus penibleren Aufzählungen Becketts denken, der andererseits bei unverständlichen Dingen zu sagen pflegte, C’est du gaélique pour moi. Durch das Überlaufen zum Französischen hat er neutrale Distanz zu den beiden irischen Amtssprachen gewonnen, seine Helden hat er überwiegend mit schönen irischen Namen gälischer Herkunft ausgestattet, die unsere Freude und nicht unsere Mißgunst erwecken, Murphy (Ó Murchadh), Molloy (Ó Maolmhuaidh), Malone (Ó Maoileoin). Namen anderer Herkunft hat er zum Teil auf freier Strecke kassiert und durch irische Namen ersetzt, Saposcat (Sapo) wird umstandslos zu Macmann (Mac Mathghamha), Basile zu Mahood (MachUid), alles Namen mit Ò und Mac, keine Namen mit Fitz. Der Innommable bleibt, wie sollte es anders sein, namenlos wie die Kosmonauten. Allerdings wird nie recht klar, ob der Namenlose und MachUid nicht ein und derselbe Unglücksrabe sind. Unglücksrabe, diese Benennung würden sie jedenfalls wie ein Mann zurückweisen.

Freitag, 8. September 2017

Kraftwerk

Platztausch

Wenn Austerlitz ausführt, die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur seien es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen ist, behaupten kann, daß er ihm gefalle, so hat er fraglos den Dichter auf seiner Seite, der des weiteren einen Verbündeten hat in Thomas Bernhard, der seinerseits urteilt, die Neubauviertel in vormals schönen alten Städten seien in der Regel wie hingeschissen, ein Fachausdruck, der unverständlicherweise noch keinen festen Platz in die Begriffswelt der Architekturwissenschaft gefunden hat, auch Austerlitz, obwohl vom Fach und sicher ähnlicher Einschätzung, verwendet den Terminus, soweit für uns erkennbar, nicht. Abgesehen davon, daß Bernhard eine Reihe schöner Landhäuser in aufwendiger Weise eigenhändig saniert und wiederhergestellt hat, beschäftigt er sich auch in seinen dichterischen Werken wiederholt mit Architekturproblemen. Roithamer hat in dreijähriger Planung und ebenso langer Bauzeit für seine Schwester in der Mitte des Kobernaußerwaldes ein aus seiner Sicht ihr vollkommen entsprechendes Bauwerk geschaffen, einen sogenannten Kegel. Beim Anblick des vollkommenen Bauwerks trifft die Schwester allerdings ohne weiteres der tödliche Schlag. Auch der Schweizer setzt seiner Frau, der Perserin, mit seinem Bauvorhaben arg zu. Der Schweizer, der auf eine internationale Karriere als Kraftwerksbauer zurückblickt, plant für den Lebensabend eine Wohnstätte im Stil eines Kraftwerks. Der Gebäudeplan war allen Vorstellungen eines Wohnhauses entgegengesetzt, menschenabweisend war es alles andere als eine Behausung für sich zur Ruhe Setzende, vielmehr hatte der Bau von außen so ausgesehen wie der Betonpanzer für eine Maschine, die weder Licht noch Luft braucht. Die alten Industriebauten ähnelten Wohnhäusern für Menschen und nicht umsonst sind sie inzwischen als sogenannte Lofts die begehrteste Wohnlage überhaupt. Auch die leeren Lagertennen und Speicher werden bald von Menschen bewohnt sein, die außer Betrieb gesetzte Gasanstalt, die Knochenmühle und gar der hinter einem endlos sich dahinziehenden Palisadenzaun gelegene Schlachthof, eine aus lauter leberfarbenen Backsteinen gemauerte gotische Burg mit Brustwehren und Zinnen und zahlreichen Türmchen und Toren. In den modernen Wohngebäuden dagegen, die immer mehr Produktionsstätten gleichen, werden bestenfalls noch Maschinenmenschen hausen.

Mittwoch, 6. September 2017

Egomanie

Ebenbürtig

Zu Raymond Chandlers hundertstem Geburtstag wurde eine Art Festschrift herausgegeben, zu der an die dreißig im Kriminalfach tätige Autoren je eine Marlowe-Kurzgeschichte beisteuerten. Chandler hatte sich in seinen frühen Erzählungen nicht ausnahmslos an die Form des Icherzählers gebunden, zu recht aber ist niemand von den dreißig Erzählern auf die Idee gekommen, seine Geschichte anders als in der Ichform vorzutragen. Marlowe kann als der archetypische Icherzähler der neueren Literatur angesehen werden, archetypisch in jedem Fall für all die Gumshoes, die seinen Spuren, oft leicht hinkend, gefolgt sind. Der Leser sitzt hinter Marlowes Augen, er sieht nur das, was der sieht, Marlowes Worte hört er, als seien es die seinen, die Worte der anderen hört er mit Marlowes Ohren, er hört auch das leise Raunen seiner Gedanken. Immer ist Marlowe und der Leser mit ihm im aktuellen Zeitlauf, wie jeder hat Marlowe Erinnerungsvermögen und Zukunftserwartung, Erinnerung setzt er aber nur instrumentell ein, die Fälle haben immer eine Vergangenheitsdimension, Marlowe hat keine Vergangenheit, keine Kindheit, keine Jugend, kein Elternhaus, keinen Schulbesuch.

Ist Marlowe archetypisch auch für Sebalds Erzähler, der nach eigenem Bekunden an einem Kriminalroman, den Schwindel.Gefühlen arbeitet? – es gehe, so führt er aus, um eine Reihe unaufgeklärter Verbrechen und um das Wiederauftauchen einer seit langem verschollenen Person. Die feste Burg des Icherzählers ist die Autobiographie, in der er, so die Idealvorstellung, möglichst umfänglich und wahrheitsgetreu von sich berichtet. Sebalds Prosa könnte man als Fragmente einer Autobiographie lesen, in der der Autor über sich möglichst wenig erzählt und auch die Wahrheit nicht sonderlich hochschätzt. Kann man sich Gedanken machen, ob Chandler zu seinem fiktionalen Helden gleichwohl biographische Bezüge unterhält - neben dem Alkohol wäre das Pfeiferauchen zu nennen - so muß man sich bei Sebald ständig fragen, wo der autobiographische Bericht in Fiktion übergeht. Sollen wir glauben, daß Manchester eine menschenleere Großstadt ist, daß im deutschen Konsulat zu Mailand ein Artist mit Namen Giorgio Santini den Strohhut trägt, mit dem Pisanello San Giorgio ausgestattet hatte, daß man in Brüssel in einer Woche mehr Bucklige und Irre trifft als sonst in einem ganzen Jahr: an allen Ecken und Enden geht die Wahrheit lautlos in Dichtung über. Auch ist man nicht gehalten, ständig mit den Augen des Icherzählers zu sehen, mit seinen Ohren zu hören, in den Schwindel.Gefühlen sind wir zunächst mit Stendhal allein, später dann mit Kafka, und selbst auf dem Weg von Oberjoch nach W. ist es eher, als gingen wir in der Gesellschaft des Erzählers, die Leser können, so der Eindruck, an der Person des Icherzählers mit den eigenen Augen vorbeischauen. Die Ringe des Saturn führen uns nach China und in den Kongo, ohne daß der Icherzähler mitreist. In den Ausgewanderten läßt sich der ermüdete Erzähler von den Tagebüchern entlasten, die seine Protagonisten zur Verfügung stellen. In Austerlitz betritt mit dem Titelhelden ein zweiter Icherzähler die Bühne, schlägt man das Buch an einer beliebigen Stelle auf, weiß man nicht immer gleich, wer gerade der Icherzähler vom Dienst ist. Oft kann man den Eindruck haben, als bahne sich eine Fusion der beiden Erzähler an.

*

In der Verständnis des Icherzählers und der Verbrechensaufklärung gehen Chandlers und Sebalds Wege eher auseinander, Ähnlichkeiten bestehen bei den archétypes involontaires, où les mots prennent leur sens et leur vie, etwa beim Empfangspersonal in Hotels und ähnlichen Etablissements: A man was sitting at a small desk which had dust on it, a very large ash-tray and very little else. He was short and thick-set. He had something dark and bristly under his nose about an inch long. I sat down across from him and put a card on the desk. He reached fort he card without exitement, read it, turned it over and read the back with as much care as the front. There was nothing on the back to read. - The clerk on duty was an egg-headed man with no interest in me or in anything else. He wore parts of a white linen suit and he yawned as he handed me the desk pen and looked off into the distance as if remembering his childhood. Der Blick, der sich in eine unbestimmte Ferne verliert, vom Autor arglistig als Erinnerung an die Kindheit gedeutet, die sorgfältige Untersuchung des leeren Blattes, kurze Einblicke in ein anderes, rätselhaftes Leben, bei denen es sein Bewenden haben muß, der Detektiv kann nicht verweilen, er muß anderen Spuren folgen. Beim Umgang mit dem Empfangspersonal ist Marlowe dem von Schwindelgefühlen geplagte Erzähler ebenbürtig. Ebenbürtig auch der Umgang mit den Wasservögeln: There was a short wooden pier down there with a rowboat tied to it by a white painter. Towards the far shore, which wasn’t very far, a black waterhen was doing lazy curves, like a skater. They didn’t seem to cause as much as a shallow ripple.

*

Assez de cette putain de première personne, verkündet Becketts Namenloser und zwanzig Seiten später dann, Je mettrai à la place la troisième personne, si j'y pense. Er wird es vergessen, denkt man, aber nur wenige Seiten später macht er seine Drohung wahr, wenn auch nur für eine kurze Weile.

Sonntag, 3. September 2017

Hinter unserem Rücken

Cuando ya no importe

So wie die himmlischen Heerscharen durch die Luft fahren, geben sie uns, wenn wir hinsehen wollen, einen Begriff von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht. Wenn wir hinsehen wollen -, das WIR ist eine der gefährlichsten Vokabeln überhaupt, mit faschistoider Tendenz, werden doch ständig unter diesem Titel Menschen vereinnahmt, die sich ihm nicht zugehörig fühlen. Diese Gefahr ist hier gebannt, da der Zutritt freigestellt ist, wer will kann nach oben schauen, die anderen lassen es. Wer von den Versammelten will eigentlich hinsehen, der Dichter, die Leser, Tiepolo selbst? Tiepolo, Maler des achtzehnten Jahrhunderts, das nach übereinstimmender Einschätzung der Historiker (Le Goff) und Soziologen (Luhmann) das Mittelalter endgültig abschließt. Für die Kunstgeschichte zieht Calasso ausdrücklich Tiepolo heran als den, der die Tür hinter sich zumacht: fu adatto ad assumere il ruolo di epilogatore della pittura, almeno in quel senso particolare, singolare, irrecuperabile che aveva assunto in terra europea per cinque secoli. Wenn Tiepolo auf diese Weise als letzter Nachfahre des Mittelalters erscheinen mag, so hat er doch die neuen Entwicklungen in der Astronomie wahrgenommen und hielt nicht den Blick in schlichter Gläubigkeit nach oben gerichtet, so wie er die himmlischen Dinge gemalt hat, waren sie ihm nicht wirklich. Unverkennbar hat der die geistlichen Bilder in der Art seiner weltlichen Bilder gemalt, hier und da helle und dunkle Schönheiten mit Federputz auf dem Kopf, knieende Mohren mit Sonnenschirm. Auch der Dichter schaut, wenn es ihm einfällt, gelassen nach oben, hat er doch nicht den Eindruck, daß der in der Neuzeit empfohlene Blick nach vorn große Vorteile bringt. Man mag die schönste Zukunft sich ausmalen, der reale Verlauf der Geschichte ist dann immer ein anderer, und ehe man es sich versieht, geht es schon wieder auf die nächste Katastrophe zu. Wenn, anders als erwartet, die rationale Erfassung, geschweige denn die rationale Gestaltung der Welt nicht gelingt, wenn das archaische Ritual der Zergliederung gekleidet als Forschungsdrang der neuen Wissenschaft fortdauert, wenn der Blick nach vorn nicht erfaßt, was in unserem Rücken vor sich geht, wenn es also schon nicht mehr darauf ankommt, mag man, ohne etwaige Vorwürfen gelten zu lassen, ebensogut weiter durch die Luft nach oben zu den himmlischen Heerscharen aufschauen.

Samstag, 2. September 2017

Entertainment

Stufen der Zivilisierung

Nichts sticht in McGinleys Erinnerungen an seine Kindheit in Donegal stärker hervor als der Umstand, daß es keinerlei organized entertainment gab, ein Umstand, der als bloße Vorstellung die meisten Zeitgenossen, wenn sie ihn sich recht vor Augen führen, mit Grauen erfüllt, anderen aber geht das Herz auf. Marcello Mastroianni, in Antonionis La notte, mit Jeanne Moreau als Gefährtin in einer Nachtbar, merkt an, das Leben wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man sich nicht unterhalten müßte. Andere noch könnten angeführt werden, beschränken wir uns aber auf den oft unter Schwindelgefühlen leidenden Dichter. Einmal erleben wir, wie er fast eine größere Kulturveranstaltung besucht hätte, die Aufführung der Oper Nabucco in Bregenz, im letzten Augenblick aber verschenkt er sein Billett, und noch Jahre später reut es ihn, überhaupt hingefahren zu sein. In Berlin, nicht weit vom Schlesischen Tor, war er später dann nach einigem Herumgehen in der trostlosen Gegend auf ein kleines Häufchen von Menschen gestoßen, das vor einer Art Droschkenschuppen darauf wartete, eingelassen zu werden zur Aufführung eines Dramenfragments von Jakob Michael Lenz. Alles wirkt zufällig, unorganisiert. Drinnen im dämmrigen Raum nahm man auf niedrigen Holzstühlchen Platz, wodurch man gleich in eine kindliche, das Wunderbare herbeisehnende Verfassung kam. Offensichtlich orientiert der Kanon zulässiger Unterhaltungen sich am Maßstab der von Austerlitz entworfenen Liste zulässiger Architektur, die nur Bauten unter dem Normalmaß des Domestischen erfaßt, die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Die Bebauung an der irischen Westküste in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hätte ohne Schwierigkeiten und größere Prüfung Zugang zur Liste gefunden.

In Donegal gesellte sich zum fehlenden Entertainment das Moment fast völliger Seßhaftigkeit. Unter diesen Bedingungen konnten sich die Gespräche im Pub oder Teach tábhairne, die, man muß es einräumen, den Männern vorbehalten waren, unter der Regie eines begnadeten Wirts zu einer wahren Kunstform entwickeln und kulturelle Bedürfnisse jeglicher Art zufriedenstellen. Das Merkmal der Seßhaftigkeit kann beim Dichter, anders als bei manchen, die er auf seinen Wanderungen und Reisen besucht, nicht beobachtet werden kann. Seine Kindheit und Jugend aber in W., tausend Meilen südlich der Grafschaft Donegal, verlief auf einer nur um eine Stufe höheren Ebene der sogenannten Zivilisierung, mit dem Ergebnis, daß von einer Pubkultur nicht die Rede sein konnte, der Engelwirt war vielmehr ein übel beleumundetes Wirtshaus, in dem die Bauern bis in die Nacht hinein hockten und oft bis zur Bewußtlosigkeit tranken. Ausgleichendes Merkmal der höheren Zivilisierung waren die allfälligen Filmvorführungen und Theaterinszenierungen im großen Saal des Engelwirts. Hinzu kamen volkstümliche Vergnügungen, Lukas Seelos erinnert sich, jahrelang den Fastnachtskasper gegeben zu habenweil nirgends ein Nachfolger aufzutreiben war, der ihm das Wasser hätte reichen können. Der Dichter hat gegen diese bairischen Vergnügungen nichts einzuwenden, hätte sich aber wohl auch mit der niedrigeren Kulturstufe in Donegal abfinden können. Ob er, herangewachsen, die kunstvollen Debatten an der Theke wirkungsvoll hätte beleben können, diese Frage muß unbeantwortet bleiben.

Freitag, 1. September 2017

Zwiegestalt

Gewirr der Zeit

Im Oktober 1980 reist Selysses über Wien nach Italien in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Gemessen an diesem Ziel ist die Reise ein Fehlschlag, schon bald flieht er in panischem Schrecken aus Verona zurück über die Alpen. Sieben Jahre später, im Sommer 1987 wiederholt er, einem sich rührenden Bedürfnis nachgebend, die Reise, um die schemenhaften Erinnerungen an die damalige Zeit genauer zu überprüfen und vielleicht einiges davon aufschreiben zu können. Schon die Anreise selbst verbringt er zu einem guten Teil über seinen Aufzeichnungen, um sich dann in Venedig an der Fondamenta Santa Lucia einen halben Vormittag lang weiter mit ihnen zu beschäftigen. Das gesteckte Ziel der zweiten Reise ist offenbar bekömmlicher, auch diesmal geht es nicht ohne Unannehmlichkeiten ab, Panikattacken aber bleiben aus, nicht zuletzt dank der offenbar sedierenden Wirkung des Schreibens. In Limone breitet sich gar für eine kurze Weile der ewige Frieden aus. Er saß an einem Tisch nahe der offenen Terassentür, das Schreiben ging ihm mit einer ihn selbst erstaunenden Leichtigkeit von der Hand. Hinter der Theke war ein großer Wandspiegel eingelassen und so konnte er zu seiner besonderen Genugtuung sowohl Luciana als auch das Abbild Lucianas betrachten. Als um die Mittagszeit die Gäste von der Terrasse verschwanden, und auch Luciana ihren Posten verließ, ging es mit dem Schreiben schwerer und schwerer. Eine bis zum Ende der Erzählung fortdauernde positive Wirkung hat demgegenüber der Verlust des Passes, der sich am Tag der Abreise als unauffindbar erweist.

Die Begegnung mit aus touristischen Gründen in Limone weilenden Landsleuten hatte beim Erzähler den Wunsch erweckt, dieser Nation nicht anzugehören, am besten gar keiner Nation, mit dem Verlust des Passes ist er diesem Ziel spürbar nähergekommen. Nur unter Zwang fast schon läßt er sich von Luciana zwecks Ausstellung einer Verlustbescheinigung zum Polizeikommandanten fahren, den ausgehändigten Beleg deutet er als Trauschein, der es Luciana und ihm erlaubt, miteinander hinzufahren, wo sie wollen, eine weitere wichtige Zivilstandsänderung. Im Warteraum des Konsulats in Mailand trifft er auf einen Artisten namens Giorgio Santini, der den Hut des San Giorgio in der Hand hält. Schon während der 1980er Reise war er gleich in Wien auf eine Reihe solcher Zwiegestalten gestoßen, auf die Mathild Seelos, den Dorfschreiber Fürgut, beide längst tot, und als Krönung, in der Gonzagagasse, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante. Mit seinem Paß erhält er, wie er mit einem Hauch von Ironie bemerkt, die Freizügigkeit zurück, versteht er darunter doch auch einen freizügigen Umgang mit dem Dokument. In der Goldenen Traube in Verona legt er den Ausweis nicht vor und trägt sich ein als Jakob Philipp Fallmerayer, Historiker aus Landeck, nun zählt auch er zu den Zwiegestalten. Naturgemäß weiß niemand in dem Hotel, wer Fallmerayer ist oder war, und doch bereitet man ihm geradezu eine Willkommensfeier. Der von der Statur an Bruckner erinnernde Portier und die eigens herbeigeeilte Geschäftsführerin behandeln ihn wie einen seit langem erwarteten und nun endlich eingetroffenen Ehrengast, die Nachtruhe grenzte, wie auch das anschließende Frühstück, ans Wunderbare. Die aus der Oper Aida auf den letzten Seiten der Erzählung sich entfaltende orientalische Welt ist er als Fallmerayer bestens vorbereitet.

Bei seinen Aufzeichnungen handele es sich um einen Kriminalroman, und auch sie käme darin vor, läßt Selysses Luciana Michelotti wissen. Der ursprüngliche Plan, bei der zweiten Reise über die erste zu schreiben ist, wenn nicht aufgegeben, so doch erweitert. Erleben und Schreiben sind inzwischen weitgehend synchron, vielleicht geht bald das Schreiben dem Erleben voraus. Die diachrone Zwiegestalt des Erzählers von 1980 und des Erzählers von 1987 ist aufgehoben, gleichzeitig macht der Paßverlust in Limone die synchrone Zwiegestalt von Erzähler und Fallmerayer möglich. Es ist freilich, wenn man so sagen kann, eine diachrone Synchronizität, Fallmerayers Lebensdaten liegen näher bei Stendhal noch als bei Kafka. Selysses ist endgültig eingetaucht in das Gewirr der Zeit.