Sonntag, 19. Februar 2017

Hypatia

Lernen vom Huhn

 
Immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, geht es bereits auf die nächste Katastrophe zu, beurteilt der Dichter den Lauf der Geschichte. Oft aber hätte alles auch ganz anders, nämlich besser kommen können, als es dann tatsächlich kam. Kaum etwas strahlt heller die Botschaft aus, alles hätte sich schon früh zum Guten wenden können und müssen, als Raffaels Fresko von der Scuola di Atene. Platon und Aristoteles sind eiligen Schritts durch den offenen Torbogen in das Schulgebäude eingetreten. Das Menschenspalier, das sich sogleich links und rechts gebildet hat, beachten sie weiter nicht. Beide haben ihre jeweils entscheidende Schrift unter dem Arm, Platon zeigt mit der Hand nach oben in das Reich der Ideen, Aristoteles weist nach unten auf die Erde und die unverrückbaren Fakten. Nichts aber deutet auf einen Streit hin, es sieht vielmehr so aus, als sei ihnen die bahnbrechende Synthese ihrer unterschiedlichen Ansätze zu einer umfassenden und widerspruchsfreien Weltbeschreibung gelungen. Sie werden die Treppe hinabgehen zwischen den philosophierenden Kollegen hindurch, Diogenes, der auf den Stufen lungernd im Weg liegt, wird, wie man ihn kennt, wohl nicht Platz machen und Aristoteles setzt im leichten Sprung über ihn hinweg. Durch einen ebensolchen Torbogen auf der anderen Seite verlassen die beiden das Gebäude wieder, ohne von den anderen Notiz genommen zu haben. Die aber, von Diogenes einmal abgesehen, erwachen aus ihrer friedlichen, fast schon lethargischen Muße und eilen den beiden hinterdrein in die weit geöffnete selige Zukunft. Und doch ist die Szenerie mit einem schweren Makel behaftet, es ist eine reine Männerversammlung, wen man absieht von Hypatia auf der linken unteren Bildseite, in einem weißen Kleid, rechts oberhalb von Pythagoras, der am vorderen Rand sitzend in einem Buch liest.

Ein paar Hühner mitten in einem grünen Feld hatten sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere schier endloses Stück von dem Haus entfernt, zu dem sie gehörten. Aus einem nicht gleich erfindlichen Grund ist uns der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Es ist, sagen wir uns nun, das gleiche Gefühl eines Aufbruchs hinaus in die freie Luft des Realen wie seinerzeit in Athen, und entscheidend kommt hinzu, daß der Hahn, soweit überhaupt vorhanden, inmitten der Hühnerschar so unauffällig blieb wie Hypatia in der Schar der Philosophen. Platon und Aristoteles hätten, um die Menschheit wirklich in eine glückliche und erfolgreiche Spur zu lenken, vor dem Hinausgehen in die freie Wirklichkeit nicht nur ihr unterschiedliches Weltverständnis, sondern auch die gendergerechte Zusammensetzung von Philosophen- und Hühnerschar zum Einklang bringen müssen. Ohne das war das Elend der Geschichte, wie wir es alle kennen, nicht zu vermeiden. Die Weisheit des Federviehs hat der Dichter nie geringer geschätzt als die der Philosophen.

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