Mittwoch, 14. Dezember 2016

Celeste

Lage der Dinge
Der Major Le Strange hatte Florence Barnes, eine einfache junge Frau aus dem Landstädtchen Beccles, eingestellt unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Schweigens einnehme. Wurde die Vereinbarung im persönlichen Gespräch zwischen Le Strange und Barnes getroffen oder bereits schweigsam auf dem Schriftwege, vielleicht sogar über einen Anwalt? Celeste Albaret jedenfalls wird nicht von Proust persönlich in ihr Amt eingeführt, das sie zunächst nur vertretungsweise wahrnimmt, sondern vom dem anfangs noch Dienst tuenden Kammerdiener. Sie erhält die ausdrückliche Anweisung, Monsieurs Zimmer nur zu betreten, wenn er geschellt hat, nicht anzuklopfen, mais, surtout, ne lui parlez pas, sauf s’il vous pose une question. Geschellt wird täglich für das Frühstück, das der nachtaktive Dichter allerdings kaum je am Vormittag zu sich nimmt. Es besteht aus einer Tasse Milchkaffee und einem Croissant, Kaffee der Marke Corcellet und ausgesuchter Milch aus einem Feinkostgeschäft. Celeste tritt ein mit dem Tablett, sans qu’il m’adressa un mot. Ab und zu schellt er erneut für ein zweites Frühstück der gleichen Art. Le petit déjeuner était presque tout son repas. Kochen muß Celeste nur in Ausnahmefällen, und dann ißt Proust nur wenige Happen, wenn es eine Suppe ist, il en mangeait une ou deux cuillerées et c’était tout. Falls von dem nachmittäglichen Morgenkaffee etwas übriggeblieben ist, trinkt er ihn, allen Feingeschmack hintanstellend, womöglich kalt in der Nacht, nur frische heiße Milch wird zugegossen. Während des Frühstücks wird Stille gewahrt, nicht aber unbedingt für den Rest des Tages. Il a commencé à me retenir de temps à l’autre pour causer, und schließlich wird Celeste seine engste Vertraute. Dann und wann erinnert er sich an ein Lieblingsgericht seiner Jugend, läßt es sich nach einigem Überlegen aber nicht bereiten, il aimait mieux le manger en souvenir – wohl die äußerste, für Proust, wie man sich denken kann, aber naheliegende Verfeinerung der Gourmandise.

Der Frage, wie Proust ohne unverzichtbare Nährstoffe und Vitamine immerhin so alt werden konnte, wie er geworden ist, kann hier nicht nachgegangen werden, es geht nur um überschaubare Gemeinsamkeiten mit Le Strange in den Fragen der Lebensführung. Beide haben sich aus der Menschengemeinschaft zurückgezogen, der Major noch um einiges radikaler, beide haben ihr Wohlergehen zu gutem Teil in die Hände einer jungen Frau gelegt. Die Schilderung des Zusammenlebens von Le Strange und Florence Barnes umfaßt vier Seiten, Celeste Albarets Erinnerungen haben einen Umfang von vierhundert Seiten. Diese vierhundert Seiten beantworten viele Fragen, die bezogen auf Le Strange erst noch gestellt werden müssen. Wieviel Mahlzeiten bereitet Florence täglich, Frühstück, Mittags- und Abendmahl, Tee zwischendurch? Drei oder mehr Mahlzeiten täglich verbracht in gemeinsamem Schweigen, das wäre keine leichte Prüfung. Gut denkbare wäre, daß Le Strange sich ein schlichtes Frühstück selbst bereitet und Florence nur eine gemeinsame Hauptmahlzeit täglich anrichtet. Viel hängt davon ab, ob sie, wie es der Text allerdings nahelegt, dauerhaft in dem großen Steinhaus gewohnt oder vielmehr als Zugehfrau gearbeitet hat.

Wurden die Mahlzeiten zu festen Zeiten eingenommen? Wir vermuten einen zunächst festen Tagesablauf mit zunehmenden Deregulierungstendenzen im Verlaufe der Zeit, als die Lebensführung des Majors mehr und mehr ins Exzentrische sich zu wandeln begann. Während der Tage und Nächte, die der Major nach dem Vorbild des heiligen Hieronymus in einer von ihm selbst ausgehobenen Höhle verbrachte, waren offenbar alle bestehenden Gewohnheiten außer Kraft gesetzt. Wie war es mit der Qualität und Verfeinerung der Speisen, war Le Strange ein Gourmet? Das wenige, das wir wissen von ihm, läßt eher an einen Jünger Wittgensteins glauben, dem egal war, was er aß, wenn es nur immer gleich blieb. Kostproben werden uns vorenthalten ebenso wie Hinweise auf etwaige Lieblingsgerichte, Indizien dafür, daß ihm am Essen nicht viel liegt. Auch auf einem anderen hervorragenden Konsumfeld, dem der Kleidung, zeigt er sich betont desinteressiert, in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig aufgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen mochte, ist er in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er sich bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte.

Fragen, die Celeste für Proust beantwortet hat, konnten wir daraufhin für Le Strange immerhin stellen, und wenn es auch keine Klarheit gibt, so ist doch einiges Licht eingefallen. Das Zentrum, die Frage nach dem Warum des Rückzugs aus der Menschengemeinschaft, liegt allerdings noch ganz im Dunklen. Bei Proust sind drei Gründe für das gewählte Eremitentum zu erkennen, zum einen der Krieg, der das gewohnte gesellschaftliche Leben ohnehin stark reduzierte hatte; dann die gesundheitlichen Einschränkungen, obwohl in dieser Hinsicht eine etwas sportivere Lebensweise vielleicht besser gewesen wäre; und schließlich und vor allem die Konzentration auf das große Werk. Für Le Strange ist eine Spätfolge des Traumas Bergen Belsen angedeutet aber nicht bestätigt. Der Dichter hilft uns nur wenig, man könnte meinen, der Rückzug aus der Menschengemeinschaft sei ihm bei der Lage der Dinge einleuchtender als der Verbleib. Aber ist die Literatur, die Kunst nicht selbst immer ein Rückzug aus der Welt, um sie neu und tiefer zu erfassen, ist der Dichter nicht von Haus aus ein Verbündeter der Eremiten?

Celeste Albaret hat sich nach langem Zögern zu ihrem Buch entschlossen, um, wie sie sagt, einiges von dem Falschen zu berichtigen, was über Proust zu hören war. Da siedelte Proust allerdings in seinem Werk bereits so sicher wie in einer Bastion. Dem wenigen, das wir über Le Strange erfahren, können wir nicht trauen. Was er von solchen Geschichten, wie etwa der des Hieronymus in der Grube, halten soll, das sei ihm bis heute nicht klar, räumt auch der Dichter ein. Florence Barnes hat, anders als Celeste, ihr Schweigen gewahrt, und vielleicht sollten wir darüber froh sein. Hätte sie gesprochen, wäre die zerbrechliche Geschichte, wie wir sie jetzt kennen, womöglich zerstört worden und läge nicht länger in ihrer Schönheit vor uns.

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