Sonntag, 23. Oktober 2016

Fließgewässer

Friaulisch

Die Luft war erfüllt von einem ständigen Rauschen, das nicht von dem Wind in den Bäumen herrührte, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden, wenn auch von meinem Fenster aus unsichtbaren Ithaca Falls, nur einem von den über hundert Wasserfällen, die in der Gegend des Cayugasees seit dem Ende der Eiszeit in die tief eingeschnittenen Schluchten und Täler hinunterstürzen. Alles deutet daraufhin, daß der Dichter es bei dem akustischen Eindruck bewenden läßt und keinerlei Anstrengung unternimmt, das sogenannte Naturschauspiel eines Fließgewässers im freien Fall auch in Augenschein zu nehmen. Ein ander Mal wandert er im Gebirge, nur zu seiner Linken, über dem von Weg aus nicht sichtbaren Bachlauf schwebte ein wenig schütteres Licht. Astlose, gut siebzig- bis achtzigjährige Fichten standen die Abhänge hinauf. Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund. Von einem Versuch, vielleicht doch einen Blick auf das fließende Wasser zu erhaschen, wird nicht berichtet. Dann, bei schon einfallender Dunkelheit in der Ebene angelangt, blieb er lange auf der steinernen Brücke kurz vor den ersten Häusern stehen und horchte auf das gleichmäßige Rauschen der Ach. Sehen kann er offenbar bereits kaum noch etwas, und so erfahren wir nichts über den Verlauf des Fließwassers, seinen Grund, seine Tiefe, die Ufergestalt. Monate zuvor war er in Verona unter den Bäumen der Uferpromenade den Adige entlangspaziert und war ab und zu stehengeblieben, um ein wenig auf den Fluß hinabzusehen. Vom Hund, der ihn begleitet, erfahren wir immerhin, er habe versonnen auf das fließende Wasser geschaut, von den gewässerbezogenen Eindrücken des Spaziergängers erfahren wir nichts.

Schwer beladen bis zur Bordkante im Wasser zogen die Kähne vorbei. Rauschend tauchten sie aus dem Nebel auf, durchpflügten die aspikgrüne Flut und verschwanden wieder in den weißen Schwaden der Luft: ein eindrucksvolles Wasserbild, aber die Kanäle Venedigs lassen sich nicht als Fließgewässer einordnen. Durchweg werden die stehenden Gewässer bevorzugt. An einer Wegkehre sah ich in die Tiefe hinunter und erblickte die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernsteinsees und des Samaranger Sees, die mir schon in der Kindheit wie der Inbegriff aller nur erdenklichen Schönheit vorgekommen waren. Und gar der Gardasee: Am jenseitigen östlichen Ufer stieg der Abendglanz immer höher hinauf. Der ganze dunkelglänzende See lag jetzt still da. Die in ihrer Gewaltigkeit ungeheure Schattenwand ragte so steil und hoch auf, daß man meinte, sie neige sich und könne, im nächsten Augenblick, in den See hineinstürzen. Selbst der unscheinbare Brackwassersee entfaltet einen stillen Zauber, an diesem Tag konnte man glauben, man schaue hinein in die Ewigkeit. Das Himmelsgewölbe war leer und blau, kein Hauch regte sich in der Luft, wie gemalt standen die Bäume, und nicht ein einziger Vogel flog über das samtbraune Wasser.

Eine bewußte Bevorzugung der stehenden gegenüber den fließenden Gewässern ist nicht anzunehmen, eher denkt man an die eingestandene Vorliebe des Dichters für die langsamen, nahezu stehenden Sätze in der Musik. Ich riß das Fenster herab. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle, weiß stäubend, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Kopf und dachte an die Zerstörungen, die im Friaulischen vor wenigen Monaten erst sich zugetragen hatten. Und haben wir nicht erst in diesen Tagen erlebt, daß harmlose Bäche und Flüßchen wie die Ache ganze Ortschaften fortgeschwemmt haben. Die Wasserfälle am Fernpaß verwandelt der Dichter gleichsam in stehende Gewässer, es erstaunt ihn die schleierhafte Zeitlupenhaftigkeit der unverändert herabstürzenden Bäche, so als ständen sie still vor der Felswand.

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