Freitag, 9. September 2016

Untröstlich

Wo ist dein Stachel

Der Dr. Rambousek mußte zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden, einer auch sonst im Werk des Dichters erheblich verbreiteten Menschengattung. Ob einzelne Berufsgruppen besonders anfällig sind, läßt sich schwer sagen, Dr. Rambouseks Kollege am Ort, Dr. Piazolo, der offenbar beschlossen hat, im hohen Alter irgendwann im Sattel seiner Zündapp zu sterben, steht, voller Lebenskraft und Zuversicht, jedenfalls am entgegengesetzten Pol. Besonders dünn ist die empirische Decke, wenn es um die Beurteilung der Sicherheitskräfte geht. Eine Polizeistation gab es nicht im Heimatort W., frühe Erfahrung ähnlichen denen mit den Medizinern, fehlen. Der Carabiniere, dem die Taxifahrer auf dem Bahnhofsvorplatz von Desenzano zusetzen, mag für den Augenblick trostbedürftig sein, aber um Augenblicke geht es nicht. Postenkommandant Dalmazio Orgiu dann später, mit seiner Rolexuhr und dem schweren Goldarmband am rechten Handgelenk, gibt, schwungvoll wie er das Dokument aus der Walze reißt, keine Anzeichen von Trübsinn zu erkennen, der äußere Eindruck mag täuschen, naturgemäß. Bei der Verfolgung der Untaten der Gruppe Ludwig treten keine individuellen Ermittler in Erscheinung, der Raubversuch vorm Mailänder Bahnhof bleibt ohne Anzeige und auch nach der Messerattacke in nächtlichen Den Haag werden anscheinend keine polizeilichen Untersuchungen aufgenommen. Greift man angesichts des kargen Ergebnisses zur umfänglichen Fachliteratur, dem Kriminalroman, erweisen sich nicht wenige Ermittler als von der Melancholie befallen, Rubem Fonsecas Comissário Mattos einer der untröstlichste von allen.

Mattos fällt der Umgebung weniger durch Untröstlichkeit auf als durch seine, glaubt man Fonseca, völlig aus brasilianischer Polizistenart geschlagene Unbestechlichkeit. Untröstlichkeit, Unbestechlichkeit, das ist bei genauer Betrachtung ein- und dasselbe. Mattos' Ehrlichkeit nährt sich nicht aus der Kantischen Ethik und beruht auch nicht auf einem gesteigerten Moralbewußtsein. Er hat einfach kein Interesse an den Vorzügen der Bestechlichkeit, wer nicht zu trösten ist, kennt keine Gier. Fehlendes Verlangen ist nicht gleichzusetzen mit umfassender Gleichgültigkeit, seinen Beruf übt Mattos, ohne irgend von ihm überzeugt zu sein, mit zäher Gradlinigkeit aus. Man denkt an den untröstlichen Aurach, der sich auf seinem ganz anders gearteten Betätigungsfeld ebenso verhält, zehn Stunden täglich im Atelier, sieben Tage die Woche, ohne Trost zu finden dabei. Trost findet er eher schon beim Verzehr der zuverlässig grauenhaften Mahlzeiten allabendlich im Wadi Halfa. Mattos, der an einem Magengeschwür leidet, ist auch diese Freude versperrt. In einem gewissen Umfang ist er ein Liebling der Frauen, diesen seltsamen, auf den Namen Alice, Laura oder Salete hörenden Wesen, findet aber auch daran keine rechte Freude. Ein weiterer Ableger der Untröstlichkeit ist die mangelnde Todesfurcht. Nicht durch Verwegenheit zeichnet sich Mattos aus, sondern durch völlige Unbeirrtheit auf seinem Weg. Ehrlichkeit im Verein mit Unbeirrtheit bedeuten, so wie die Dinge liegen in Fonsecas Brasilien, unweigerlich den Tod. Uns fällt es schwer, Abschied zu nehmen vom Comissário Mattos.

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