Samstag, 10. September 2016

Gedankenverloren

Buenos Aires

Selysses bewundert die Größen des Schachspiels, immer wieder habe es in der Geschichte des Schachs solche gegeben, die ihrer Spielmanie praktisch ihr ganzes Leben geopfert haben, arabische Kalifen, spanische Könige, böhmische Kaffeehausspezialisten, deutsche Mathematiker, Juden in Brooklyn und in den Vorstädten von Buenos Aires. Bei den wahrhaft dem Schach Verfallenen wechselte das Spielen auch ständig ab mit dem Analysieren des Spiels und dem Versuch, so etwas wie eine höhere Schachtheorie auszubilden, Kohtz, Kockelhorn und Gelbfuß, Musil, Traxler, Tarrasch und viele andere, sie alle waren auf die eine oder andere Weise bestrebt, die Fehler in den überlieferten Strategien zu finden und ein neues, zuverlässigeres Repertoire zu erstellen. Das eigene Spielvermögen schätzt Selysses als sehr dürftig ein. Kaum je erkenne er die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich ihm anbieten, kaum je sehe er weit genug voraus. Immer habe er beim Schachspielen wie auch beim Schreiben das Gefühl gehabt, daß seine Denkfähigkeit völlig unterentwickelt sei.

Im Tonfall der Schilderung glaubt man ein gewisses Einverständnis mit dem eigenen Unvermögen, wenn nicht gar ein Wohlgefallen an ihm herauszuhören und, so können wir uns fragen, wäre Virtuosität am Schachbrett dem Dichter überhaupt förderlich und ist er bei seiner Schreibtätigkeit nachhaltig auf das Denken angewiesen? Denken wird überschätzt, hat Luhmann lapidar wissen lassen und hätte wohl gern bestätigt, daß das nicht zuletzt auch für Kunst und Literatur gilt. Blumenberg hat Denken gar als Abnormität gekennzeichnet: Nicht zu denken ist durchaus normal, was immer Berufsdenker darüber denken und von anderen verlangen mögen. In der fraglosen Lebenswelt wird habituell nicht gedacht. Wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken. Und hatten nicht die Bilder Pisanellos haben im Dichter vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen?

Das Schachbrett und die Figuren hinter sich lassend, durchstreift er gedankenverloren die Täler und Höhen der Inselwelt. Frohgemut ist er dahingegangen unter den hundert Fuß und mehr aufragenden, von sonderbaren Sträußen gekrönten Lariziokiefern. Wie von selbst, gedankenlos, fügte sich das Wahrgenommene zu Worten, Sätzen und Bildern. Das stille Strömen in den Zweigen und Nadeln hoch oben war wie das Rauschen in einer Muschel und selbst kam man sich vor wie ein Taucher, der sich mit halb schwebenden Schritten bewegt über den Boden des Meers. Von einem seltsamen Fließen umgeben war er in einer anderen, gleichsam submarinen Zeit, in der alles viel langsamer sich abspielte, ohne Anstrengung, mit einer im wirklichen Leben nie zu erreichenden Leichtigkeit. Hie und da gestreift von dem in unsichtbaren Schleiern durch die Kühle des Waldes hängenden Harz- und Modergeruch ging er mehrere Stunden bergan.

Keine Kommentare: