Donnerstag, 22. September 2016

Trinkerinnen

Sinnenfreude

Über die Anna Seelos erfahren wir noch weniger als über die Rosina Zobel und das wenige liegt in einem Nebel von Gerüchten und Mutmaßungen, die wir fortspinnen müssen. Die Anna hat ihre Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib gebracht haben? Sie war eine schwere, langsame Frau und die türkische Art ist vergleichsweise zeitaufwendig. Nichts weist auch darauf hin, daß sie, die seit dem Tode ihres Mannes allein wohnte, über das Kaffeesieden die allgemeinen Haushaltspflichten vernachlässigt hätte, so daß die hohen Stückzahlen, wie sie Balzac oder Edgar Wallace zugeschrieben werden, eher nicht erreicht wurden. Wenn es zunächst heißt, sie habe die türkische Art der Zubereitung von ihrem Mann erlernt, der als erfolgreicher Baumeister längere Zeit auch in Konstantinopel verbracht hatte, und dessen Andenken sie auf diese Weise zu ehren wußte, wird später erwogen, die orientalische Kaffeekunst habe sie womöglich erst später von dem jungen Türken Ekrem übernommen, der sich in dem Büro des verstorbenen Baumeisters eingerichtet hatte, verbunden naturgemäß mit der unausgesprochenen Frage, ob es bei dem Verhältnis zwischen der Anna und dem Ekrem ausschließlich um den süßen Mokka gegangen ist. Daß Annas Tochter Lena beizeiten mit einem Kind Ekrems niedergekommen ist, macht diese Erwägungen nicht gegenstandslos, nicht zuletzt im ländlichen Raum ist die Sinnenfreude so allgegenwärtig wie ansonsten nur die drückende Last des Lebens.

Für Rosina Zobel stand Kaffee nicht obenan auf der Liste. Nachdem sie die Führung des Wirtshauses vor etlichen Jahren aufgegeben hatte, hielt sie sich den ganzen Tag in ihrer halbverdunkelten Stube auf. Entweder sie saß in ihrem Ohrensessel, das Weinglas in der Hand, oder sie ging mitsamt dem Glas hin du her, oder sie lag auf dem Kanapee. Ihre beiden Kinder sind bei einer Tante aufgezogen worden, weil die Engelwirtin nach der Geburt der Tochter mit dem schweren Trinken angefangen hat und nicht mehr imstande gewesen ist, die Kinder zu versorgen. Niemand wußte, ob der Rotwein sie schwermütig gemacht oder ob sie aus Schwermut zum Rotwein gegriffen hat. Kurios ist, daß man sie nie bei einer Arbeit sah, weder kaufte sie ein, noch kochte sie, noch sah man sie Wäsche waschen oder das Zimmer aufräumen, ein wahres Rätsel, da weder von einer Haushaltshilfe etwas bekannt noch auch eine besondere Verwahrlosung auffällig war. Die undurchsichtige Situation wird noch weitaus undurchsichtiger dadurch, daß im Hinterzimmer der an einer mysteriösen Wunde leidende Mann der Rosina als Pflegefall bettlägrig sein sollte, wo doch die Rosina ganz offensichtlich zur Pflege weder willens noch imstande war. Fast schon denkt man an den grauen Jäger, der im Haus der Mathild Seelos angeblich den Dachboden bewohnte und sich im nachherein als eine Kleiderpuppe erwiesen hat, der man ein Jägergewand übergeworfen hatte. Tatsächlich wird es auch dem Dichter rückblickend immer unwahrscheinlicher, daß es den Engelwirt tatsächlich gegeben haben soll, wenngleich genauere, vor Ort angestellte Nachforschungen daran angeblich keinen Zweifel ließen. Wie zuverlässig aber waren die Nachforschungen und vor allem: für welche Dauer konnte die Liegezeit des kranken Wirtes bestätigt werden?

Selten nur wirft der Dichter einen tieferen Blick in die Abgründe von Ehe und Familie, und hier, bei den beiden Trinkerinnen, lassen sich die Gerüchte und Mutmaßungen fortspinnen, ohne daß die Wahrheit klar aufscheint. Je nach Temperament wird man einer freundlichen oder einer weniger freundlichen Annahme zuneigen. In der freundlichsten Annahme hat die Anna ihm, dem toten Gatten, über die Jahre hin in der Gestalt ungezählter Tassen türkischen Mokkas ein fortwährend fließendes Denkmal gesetzt, die Rosina hat ihren kranken Mann über die Jahre hin ebenso liebevoll wie unauffällig gepflegt. Die härteste Annahme wäre, der Ekrem war auf zwei Ebenen und sozusagen schon im Bereich der Blutschande tätig und bei der Rosina ist irgendwann etwas in der Art geschehen, wie wir es, nicht ohne Schaudern bei der bloßen Erinnerung, aus dem Kinofilm Das Fenster zum Hof kennen. Wer im Bereich der Kunst vornehmlich an Darstellungen der Schlachtung des Holofernes bei Caravaggio und anderen Gefallen findet, wird sich für die härteren Annahmen entscheiden, wer gern vor den Bildern Ludwig Richters verweilt für die freundlichen. Naturgemäß sind Freunden der Mitte mittlere Lösungen nicht verschlossen.

Dienstag, 13. September 2016

Geschäftsmodelle

Wandel


Wohl auf Betreiben des Baptist, der seine ledigen Schwestern versorgt sehen wollte, hatten die Babett und die Bina das Café Alpenrose aufgemacht, in das aber nie jemand hineingegangen ist; Touristen gab es zu der Zeit so gut wie keine und für die Einheimischen ging von den Schwestern, von denen die eine mit den Händen ihren Kleiderschurz glattstreichend fortwährend im Haus und im Garten herumgelaufen ist, während die andere den ganzen Tag in der Küche gesessen und Geschirrtücher zusammenfaltet hat, kein Anreiz aus. Heute würde man von einem nicht tragfähigen Geschäftsmodell sprechen. Vermutlich hatte der Baptist Seelos, der ein erfolgreicher Baumeister gewesen war, den Schwestern obendrein noch hinreichend Kapital hinterlassen, um davon ihr Leben zu fristen. Als weitaus geschäftstüchtiger zeigte sich die Frau Unsinn, die das Konsumgeschäft am Ort führte. In der Auslage hatte sie eines Tages eine Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln errichtet, eine Art Vorweihnachtswunder als Anzeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit. Die Sanellapyramide ragte hinein in die Zukunft und im Geiste baute man sie höher und höher, so hoch, daß sie schon bis in den Himmel hinauf reichte. Von dem Supermarkt oder dem Discounter, der wohl bald schon in der nächstgrößeren Ortschaft eröffnen und auch ihr Geschäftsmodell gefährden würde, ahnte Frau Unsinn da noch nichts. Die Grundlage der Ökonomie in ländlichen Gegenden war ohnehin nicht die Gastronomie oder der Einzelhandel, sondern Land- und Forstwirtschaft. Die Bauern und Holzknechte sehen wir allerdings nicht bei der Arbeit, sondern in einem übel beleumundeten Wirtshaus, wo sie bis tief in die Nacht hinein hockten und tranken, oft bis zur Besinnungslosigkeit. In einem späten Gespräch versichert der Dichter, dank der Agrarpolitik der EU seien die Bauern mittlerweile schweinereich geworden, eine Wortwahl, die Zufriedenheit mit diesem Zustand nicht zum Ausdruck bringt. Dabei hatte die Entwicklung fraglos zur Verfeinerung der Sitten beigetragen und unter anderem das Wirtshaus gezwungen, sein Geschäftsmodell umzustellen und sich aus einer Spelunke in eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit zu verwandeln. Aber auch das verbucht der Dichter seltsamerweise nicht auf der Habenseite. Noch weniger beeindruckt es ihn, daß die Bauern- und Waldarbeiterschaft schon früh zu einer Brutstätte der Kunst geworden war. Der Maler Hengge war in den 30er Jahren auf dem Höhepunkt seines Ruhmes gestanden und bis nach München hinaus bekannt gewesen. Überall in W. und in der weiteren Umgebung konnte man an den Hauswänden seine stets in braunen Farben gehaltenen Wandmalereien sehen, die von seinen Hauptmotiven, zu denen neben den Holzknechten die Wilderer und die aufständischen Bauern mit der Bundschuhfahne gehörten, nur dann abgewichen, wenn ihm ein besonderer Gegenstand ausdrücklich vorgegeben war. Der Maler Hengge war sehr wohl imstand, sein Repertoire auszuweiten. Doch wenn er ganz nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, hat er nichts als Holzerbilder gemalt. Auch die alten Meister, so möchte man diesen spöttischen Anmerkungen entgegenhalten, hatten in der Regel aus der Auftragsarbeit heraus zu ihrem überragenden Kunstsinn gefunden. Das Schreibwarengeschäft des alten Specht, der nicht mehr unter den Lebenden ist, wird heute noch von der Frau des Lukas Seelos weitergeführt. Von den anderen Kleingewerbetreibenden und Dienstleistern, dem Uhrmacher, dem Bader, dem Schmied, dem Bäcker haben wir keine Nachrichten für die Neuzeit. Die akademischen und beamteten Dienstleister, Ärzte, Lehrer, Pfarrer, werden sicher geeignete Nachfolger gefunden haben.

Samstag, 10. September 2016

Gedankenverloren

Buenos Aires

Selysses bewundert die Größen des Schachspiels, immer wieder habe es in der Geschichte des Schachs solche gegeben, die ihrer Spielmanie praktisch ihr ganzes Leben geopfert haben, arabische Kalifen, spanische Könige, böhmische Kaffeehausspezialisten, deutsche Mathematiker, Juden in Brooklyn und in den Vorstädten von Buenos Aires. Bei den wahrhaft dem Schach Verfallenen wechselte das Spielen auch ständig ab mit dem Analysieren des Spiels und dem Versuch, so etwas wie eine höhere Schachtheorie auszubilden, Kohtz, Kockelhorn und Gelbfuß, Musil, Traxler, Tarrasch und viele andere, sie alle waren auf die eine oder andere Weise bestrebt, die Fehler in den überlieferten Strategien zu finden und ein neues, zuverlässigeres Repertoire zu erstellen. Das eigene Spielvermögen schätzt Selysses als sehr dürftig ein. Kaum je erkenne er die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich ihm anbieten, kaum je sehe er weit genug voraus. Immer habe er beim Schachspielen wie auch beim Schreiben das Gefühl gehabt, daß seine Denkfähigkeit völlig unterentwickelt sei.

Im Tonfall der Schilderung glaubt man ein gewisses Einverständnis mit dem eigenen Unvermögen, wenn nicht gar ein Wohlgefallen an ihm herauszuhören und, so können wir uns fragen, wäre Virtuosität am Schachbrett dem Dichter überhaupt förderlich und ist er bei seiner Schreibtätigkeit nachhaltig auf das Denken angewiesen? Denken wird überschätzt, hat Luhmann lapidar wissen lassen und hätte wohl gern bestätigt, daß das nicht zuletzt auch für Kunst und Literatur gilt. Blumenberg hat Denken gar als Abnormität gekennzeichnet: Nicht zu denken ist durchaus normal, was immer Berufsdenker darüber denken und von anderen verlangen mögen. In der fraglosen Lebenswelt wird habituell nicht gedacht. Wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken. Und hatten nicht die Bilder Pisanellos haben im Dichter vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen?

Das Schachbrett und die Figuren hinter sich lassend, durchstreift er gedankenverloren die Täler und Höhen der Inselwelt. Frohgemut ist er dahingegangen unter den hundert Fuß und mehr aufragenden, von sonderbaren Sträußen gekrönten Lariziokiefern. Wie von selbst, gedankenlos, fügte sich das Wahrgenommene zu Worten, Sätzen und Bildern. Das stille Strömen in den Zweigen und Nadeln hoch oben war wie das Rauschen in einer Muschel und selbst kam man sich vor wie ein Taucher, der sich mit halb schwebenden Schritten bewegt über den Boden des Meers. Von einem seltsamen Fließen umgeben war er in einer anderen, gleichsam submarinen Zeit, in der alles viel langsamer sich abspielte, ohne Anstrengung, mit einer im wirklichen Leben nie zu erreichenden Leichtigkeit. Hie und da gestreift von dem in unsichtbaren Schleiern durch die Kühle des Waldes hängenden Harz- und Modergeruch ging er mehrere Stunden bergan.

Freitag, 9. September 2016

Untröstlich

Wo ist dein Stachel

Der Dr. Rambousek mußte zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden, einer auch sonst im Werk des Dichters erheblich verbreiteten Menschengattung. Ob einzelne Berufsgruppen besonders anfällig sind, läßt sich schwer sagen, Dr. Rambouseks Kollege am Ort, Dr. Piazolo, der offenbar beschlossen hat, im hohen Alter irgendwann im Sattel seiner Zündapp zu sterben, steht, voller Lebenskraft und Zuversicht, jedenfalls am entgegengesetzten Pol. Besonders dünn ist die empirische Decke, wenn es um die Beurteilung der Sicherheitskräfte geht. Eine Polizeistation gab es nicht im Heimatort W., frühe Erfahrung ähnlichen denen mit den Medizinern, fehlen. Der Carabiniere, dem die Taxifahrer auf dem Bahnhofsvorplatz von Desenzano zusetzen, mag für den Augenblick trostbedürftig sein, aber um Augenblicke geht es nicht. Postenkommandant Dalmazio Orgiu dann später, mit seiner Rolexuhr und dem schweren Goldarmband am rechten Handgelenk, gibt, schwungvoll wie er das Dokument aus der Walze reißt, keine Anzeichen von Trübsinn zu erkennen, der äußere Eindruck mag täuschen, naturgemäß. Bei der Verfolgung der Untaten der Gruppe Ludwig treten keine individuellen Ermittler in Erscheinung, der Raubversuch vorm Mailänder Bahnhof bleibt ohne Anzeige und auch nach der Messerattacke in nächtlichen Den Haag werden anscheinend keine polizeilichen Untersuchungen aufgenommen. Greift man angesichts des kargen Ergebnisses zur umfänglichen Fachliteratur, dem Kriminalroman, erweisen sich nicht wenige Ermittler als von der Melancholie befallen, Rubem Fonsecas Comissário Mattos einer der untröstlichste von allen.

Mattos fällt der Umgebung weniger durch Untröstlichkeit auf als durch seine, glaubt man Fonseca, völlig aus brasilianischer Polizistenart geschlagene Unbestechlichkeit. Untröstlichkeit, Unbestechlichkeit, das ist bei genauer Betrachtung ein- und dasselbe. Mattos' Ehrlichkeit nährt sich nicht aus der Kantischen Ethik und beruht auch nicht auf einem gesteigerten Moralbewußtsein. Er hat einfach kein Interesse an den Vorzügen der Bestechlichkeit, wer nicht zu trösten ist, kennt keine Gier. Fehlendes Verlangen ist nicht gleichzusetzen mit umfassender Gleichgültigkeit, seinen Beruf übt Mattos, ohne irgend von ihm überzeugt zu sein, mit zäher Gradlinigkeit aus. Man denkt an den untröstlichen Aurach, der sich auf seinem ganz anders gearteten Betätigungsfeld ebenso verhält, zehn Stunden täglich im Atelier, sieben Tage die Woche, ohne Trost zu finden dabei. Trost findet er eher schon beim Verzehr der zuverlässig grauenhaften Mahlzeiten allabendlich im Wadi Halfa. Mattos, der an einem Magengeschwür leidet, ist auch diese Freude versperrt. In einem gewissen Umfang ist er ein Liebling der Frauen, diesen seltsamen, auf den Namen Alice, Laura oder Salete hörenden Wesen, findet aber auch daran keine rechte Freude. Ein weiterer Ableger der Untröstlichkeit ist die mangelnde Todesfurcht. Nicht durch Verwegenheit zeichnet sich Mattos aus, sondern durch völlige Unbeirrtheit auf seinem Weg. Ehrlichkeit im Verein mit Unbeirrtheit bedeuten, so wie die Dinge liegen in Fonsecas Brasilien, unweigerlich den Tod. Uns fällt es schwer, Abschied zu nehmen vom Comissário Mattos.

Donnerstag, 1. September 2016

Far West

Müdigkeit

Wer beim Besuch des Café des Sports in Avisa an Sergio Leone denkt, entfernt sich nicht vom Dichter, der selbst bei anderen Einkehrstationen auf Korsika die Stimmung der Westernfilme spürt: Es war als befinde man sich irgendwo im Wilden Westen, an einem gottverlassenen, von Mord- und Bluttaten ruinierten Ort, an dem nichts mehr sich rührt als bloß der Grasbüschel und Staubwolken über die Straße treibende Wind. Es beginnt bereits auf dem Flugfeld, dabei muß man sich vor Augen halten, daß Flugbetrieb zwar nicht im klassischen, wohl aber im sogenannten Spätwestern durchaus seinen Platz hat. Mancher mag sich etwa dunkel an den Film erinnern, als Mitchum zur Unterstützung von Pancho Villa in einem Doppeldecker über Mexico kreist. Der zum Flugfeld gehörende Saloon hatte gerade erst geöffnet, der Barkeeper hinter der Theke sah aus, als hätte er soeben noch im Bett gelegen. Das Haar am Hinterkopf plattgedrückt, die Augen zur Hälfte geschlossen, stapelte er mit traumverlorenen Bewegungen Teller und Tassen auf seine Kaffeemaschine. Ein zweiter, ebenso verschlafener Mensch, dem der Hemdzipfel aus der Hose hing, wischte mit einem Fetzen die Tische ab und ein Bäcker, der mehlüberstäubt wie er war, einem vom ersten Gegenlicht überraschten Gespenst glich, brachte auf einer mit Papier ausgelegten Plane den Tagesbedarf an Stangenbrot und Croissants herein. Später stößt der Reisende, nachdem er stundenlang über Land geritten ist, auf eine Wirtschaft, die zu einer kleinen Ansammlung mehr oder weniger verlotterter, auf keiner Karte verzeichneter Häuser gehörte. Hier regiert Schweigen und eine grenzenlose Müdigkeit. Der Wirt saß, unrasiert und in einem Zustand totaler Apathie auf der hölzernen Veranda und auch die Wirtin, die unter der Tür lehnte, schien todmüde zu sein. Wortlos nahm sie die Bestellung entgegen, wortlos verschwand sie im Dunkel des Innenraums, wortlos kam sie nach einer gewissen Zeit daraus wieder hervor und brachte einen Teller mit ein paar Salatblättern und etwas weißem Käse. Sämtliche Läden der anderen Häuser waren geschlossen, nichts rührte sich, bloß der Grasbüschel und Staubwolken über die Straße treibende Wind

Verboten

Als sei nichts geschehen

Dem Jungen war es verboten, in den Dachboden hinaufzusteigen, wo, wie ihm die Mathild mit der ihr eigenen Überzeugungskraft beigebracht hatte, der graue Jäger logierte. Wenn die Mathild den Jungen überzeugen konnte so sicher nicht die Leser, und viele Jahre später erweist sich der Jäger als eine mit einem hechtgrauen Jägeranzug angetane Kleiderpuppe. Warum aber, so fragt man sich, wurde dem Jungen der Aufstieg in den Dachboden verwehrt? Vielleicht ist es die Sorge um seine körperliche Unversehrtheit, niemand weiß schließlich was da lauert an scharfen Ecken und Klingen unter den gelagerten Gerätschaften, den Kisten und Körben, den Schellen, Stricken, Mausfallen und Futteralen, den Truhen, Kommoden und Kästen mit zum Teil offenstehenden Deckeln. Die Bibliothek der Mathild ist vermutlich erst nach ihrem Tod auf den Dachboden verbracht worden, andernfalls könnten dem kindlichen Gemüt mentale Blessuren drohen von den Gebetbüchern mit zum Teil drastischer Abschilderung der uns alle erwartenden Pein auf der einen und den satanischen Traktaten von Bakunin und Fourier auf der anderen Seite. Eigentlich aber gibt es keine Hinweise auf ein ängstliches Gemüt und besondere Fürsorglichkeit bei der Mathild. Eher schon wäre plausibel, daß sie eine Pädagogik des Abenteuers und der Verzauberung verfolgt, und in der Tat haben der graue Jäger und die anderen Jäger, der Gracchus und der Hans Schlag, tiefe Spuren im Empfinden und Denken des Jungen hinterlassen, man möchte sich zu der Behauptung versteigen, ohne den verbotenen Dachboden der Mathild hätte es die Schwindel.Gefühle, hätte es den Dichter nicht gegeben. Man konnte sich leicht einbilden, daß diese gesamte Versammlung der verschiedensten Dinge sich in Bewegung, in einer Art Evolution befunden hatte, und nur wenn Menschen den Dachboden aufsuchten für die Zeit des Besuchs lautlos verharrten als sei nichts geschehen. Auch diese Einbildung verdankt des Dichter der Mathild, denn ohne Zweifel ist dies der wahre Grund des Verbots: die Dinge in ihrer Bewegung hin zu eigenem, unabhängigem Leben vor Störungen zu bewahren.