Samstag, 2. Juli 2016

Prozessionsspinner

Todesordnung

Hebels Welt, in der ausgestandenes Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug ein Friedensschluß folgt und in der selbst die kuriosesten Kreaturen wie zum Beispiel die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in einer aufs sorgfältigste austarierten Ordnung, ersehnen wir im Maße der Gründlichkeit, mit der sie uns versperrt ist. Mit dem Prozessionsspinner jedenfalls hat der Dichter auf Korsika eine rundheraus traumatische Begegnung.

Zwischen den Zweigen hingen sackartige Gebilde um die Nester der Raupe Bombyx Processionis, die ganze Wälder mit einem Leichentuch überziehen und schwere Verkrüppelungen, ja sogar ein völliges Absterben der befallenen Bäume verursachen können. Andererseits aber: Manchmal, wenn die Gewebe unter dem Gewicht ihrer Insassen reißen, findet man die Raupen in Haufen auf dem Boden des Waldes, wo sie, die offenbar zu keinerlei Korrektur ihrer Entwicklungsbahn fähig sind, in einem Zustand der Besinnungslosigkeit in kurzer Frist zugrunde gehen. Normalerweise aber verlassen die Raupen in geordneter Form das Gewebe, um sich an einer kilometerweiten Stelle in der Erde zu vergraben, um dort der Verwandlung in einen Falter entgegenzuharren. Eine hinter der anderen kommen die Raupen die Stämme herab und kriechen über den Nadelboden fort, jede von ihnen unmittelbar hinter der andern, Kopfende an Hinterteil, in oft fünf Meter langen Zügen, wie ein einziges aus vielen Gliedern zusammengesetztes Schlangenwesen. Wer kann das Erstaunen und Entsetzen des Erzählers beschreiben, als er, von einer Laune bewegt, eine der Raupen aus dem Zug nahm, woraufhin diese wie tot liegenblieb, außerstande zurückzukehren an ihre kaum eine Spanne entfernten Platz. Und nicht nur die aus der Bahn genommene Raupe, der ganze Zug rührte sich nicht mehr. Auch die Rückversetzung der Raupe an ihren alten Platz konnte die Störung nicht beheben, die vielmehr als ein kollektives Todesurteil wahrgenommen wurde.

Das Entsetzen hat nicht weniger als drei Gründe. Es gilt einmal der maßlosen Wirkung eines kleinen Eingriffs und zum andern der Unumkehrbarkeit einer unüberlegten Augenblickstat. Das sind übliche Weisen des Entsetzens, die dann auch bei weitem übertroffen werden von dem Entsetzen, anstelle von Hebels schönem Gleichgewicht des Lebendigen die Fratze eines Gleichgewichts des Todes zu sehen. Einerseits können die Tierchen ganze Waldungen vernichten, andererseits sind sie gänzlich lebensuntauglich. Den Tod nach Absturz vom Baum mag noch angehen, kaum aber die völlige Hilflosigkeit bei einer minimalen Unterbrechung der Prozessionskette. In Raupenkreisen geht man offenbar von einer Welt ohne Feinde aus, einer toten Welt, und tatsächlich war ansonsten in dem Wald nicht ein lebendiges Wesen zu sehen, weder ein Stück Wild noch ein einziger Vogel, noch ein Käfer oder ein anderes wirbelloses Tier. Nicht selten hat der Dichter einen Blick auf die verhängnisvollen menschlichen Eingriffe in die Natur geworfen, Roden der Wälder, Entvölkerung der Meere. Der Blick auf die naturbelassene Natur fördert kaum Erfreulicheres zutage, auf den mauvais démiurge war bereits Verlaß, bevor er sich noch an die Erschaffung des Menschen machte.

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