Freitag, 1. Juli 2016

Evisa

Quell der Zeit

Bei einigen Filmen von Sergio Leone möchte man wünschen, daß die Eingangsszene sich endlos weiterdehnt, ein Arm hebt und senkt sich wieder, jemand steht auf und blickt zum Tor hinaus, ein Glas wird nachgeschenkt, das reicht. Wenn die Filmhandlung in Gang kommt und Fahrt aufnimmt, schalten wir das Gerät aus und lesen vom Besuch im Café des Sports in der Ortschaft Evisa auf der Insel Korsika, nur das, immerfort und nie wieder etwas anderes:

Eine Stunde später, als ich gerade beim Ausbrechen des Unwetters Evisa erreichte und dort im Café des Sports Zuflucht gefunden hatte, schaute ich lange durch die offene Tür hinaus auf den schräg in die Gasse rauschenden Regen. Der einzige Gast außer mir war ein greiser, mit einem wollenen Kittel und einem ausgedienten Armeeanorak bereits für die Wintermonate gerüsteter Mann. Seine vom Star getrübten Augen, die er gleich einem Blinden etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet hielt, waren von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis in seinem Glas. Es schien mir nicht, als ob er die seltsam theatralisch wirkende Person wahrgenommen hätte, die nach einiger Zeit unter ihrem aufgespannten Regenschirm draußen vorbeiging, oder auch das halbwüchsige Schwein, das ihr auf dem Fuße folgte. Er blickte nur immer unverwandt nach oben und drehte dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr.

Selysses findet Zuflucht in dem Café, und damit hat es sein Bewenden. Von einer Bestellung und Bewirtung ist nicht die Rede, es ist auch nicht anzunehmen, daß in der Schenke des kleinen Ortes ein Wirt oder eine Bedienerin ständig zur Stelle ist. Der sehbehinderte alte Mann im Armeeanorak hat dagegen nicht gerade erst vorm Regen Schutz gesucht, er sitzt schon längere Zeit da, vielleicht sitzt er schon immer da, vielleicht ist der Pastis vor Jahren schon eingeschenkt worden, die Augen des Mannes haben mit der Zeit die eisgraue Farbe des Getränkes angenommen. Draußen geht eine theatralisch wirkende Person unterm Schirm vorbei. Eine sekundäre, aufbauende Beschreibung: theatralisch überspringt die grundlegenden Merkmale wie groß oder klein, dick oder dünn, Mann oder Frau vor allem. Die Person: das weibliche Genus wird noch zweimal mit einem weiblichen Pronomen aufgenommen, so daß wir unwillkürlich eine Frau annehmen, es bleibt aber dabei, Person ist eine geschlechtsneutrale Bezeichnung für ein Exemplar der menschlichen Gattung, es kann sich im Grunde ebensogut um einen Mann handeln. Andererseits wiederum: ein blinder Greis und ein Schwein, vage Erinnerungen an Homer, an Ulysses, anwesend als Selysses, und an die ganz und gar weibliche Circe sind wachgerufen.

Die Person mit dem Schwein zieht hinter dem Fenster vorbei und ist verschwunden. Lesen wir die Geschichte erneut, zieht sie wieder vorbei. Wir können sie immer von links nach rechts gehen lassen und eine Kreisbewegung vermuten wie beim Zeiger der Uhr, oder aber von rechts nach links, wir können sie in eine Pendelbewegung versetzen. Bei einer Kreisbewegung im Uhrzeigersinn wäre eine geheime Verbindung zum Drehen des sechskantigen Glases anzunehmen, so wie Merkur mit der Umlaufzeit eines Sommers und Neptun mit einer Umlaufzeit von mehr als hundertundfünfzig Jahren dem gleichen Gesetz der Schwerkraft unterliegen. Aus dem Dunkel seiner getrübten Augen schaut der greise Gast in die Helligkeit ähnlich einem Sterngucker, der das Dunkel braucht, um die Sterne zu sehen.

Er drehte gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand den sechskantigen Stiel seines Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als habe er in seiner Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr: ist es eine bloße Uhr, oder befinden wir uns am Ursprungsort der Zeit, dort wo sie erzeugt wird? Von der Person mit dem Schwein scheint er keine Notiz zu nehmen, aber er weiß von ihr, so wie Merkur von Neptun weiß. Eingangs der Moments Musicaux, bevor noch die erste Melodie erklingt, lesen wir diese in sich geschlossene kleine Erzählung voller Öffnungen zum nicht ausdeutbaren archaisch Rätselhaften, dann setzt die Musik ein, deren Medium die Zeit ist, die die Zeit aus ihrem öden Gleichmaß befreit: Aus einem Kassettenrecorder hinter der Theke drang eine Art von türkischem Trauermarsch und zwischendurch eine hohe, aus dem Kehlkopf gepreßte Männerstimme.

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