Donnerstag, 12. Mai 2016

Kuppelbauten

Erinnerungsfetzen

Selysses fährt mit der Bahn nach Wien und wieder ab aus Wien, ohne daß wir den Bahnhof zu Gesicht bekommen würden. In Venedig fallen nur einige der Station angeschlossene Dienstleistungseinheiten ins Auge, der Bahnhofsbarbier bei der Ankunft und das Bahnhofsbuffet bei der Abreise. In Desenzano ist es die Toilettenanlage. In Mailand wird die riesige, zur Zeit ihrer Fertigstellung alles bislang in Europa Dagewesene übertrumpfende Konstruktion des Bahnhofsgebäudes vermerkt, ohne aber ins Detail zu gehen. Nach einer kurzen, die vergehende Zeit und die Menschen in ihr betreffenden Meditation wird Selysses auf dem hinteren Bahnhofsvorplatz auch schon Opfer eines räuberischen Angriffs. In Innsbrucker Bahnhof werden wir mit einer philosophisch aufgeschlossenen Sandlertruppe bekannt gemacht und mit den sogenannten Tiroler Stuben, in denen die Bedienerin Selysses auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul anhängt, ansonsten bleibt das Bahnhofsgebäude unbeachtet. Im Bonner Hauptbahnhof verläßt die Winterkönigen den Zug, die baulichen Schönheiten werden uns vorenthalten. Im Londoner Bahnhof schließlich halten wir die Augen geschlossen, bis der Zug hinausfährt, vorbei an rußigen Ziegelmauern, aus denen Schmetterlingssträucher wachsen, die ja bekanntlich mit den ärmlichsten Bedingungen vorliebnehmen.

Anders in Austerlitz, hier wirken die vier Bahnhöfe in Antwerpen, Prag, London und Paris wie tragende Pfeiler der Gesamtkonstruktion. Dem Baumeister des Antwerpener Bahnhofs war vor allem anderen daran gelegen, der sonst üblichen Niedrigkeit der Eisenbahnbauten ein dramatisch darüber hinausgehendes Kuppelkonzept entgegenzustellen, und tatsächlich werden selbst noch wir Heutigen beim Betreten der Eingangshalle von dem Gefühl erfaßt, als befänden wir uns, jenseits aller Profanität, in einer dem Welthandel und dem Weltverkehr geweihten Kathedrale. Die Heutigen in ihrer Gestalt als Leser halten Ausschau nach dem Vergleichsobjekt und stoßen im gesamten Prosawerk auf keine Kathedrale. Der einzige einigermaßen aufwendig beschriebene Sakralbau ist die Krummenbacher Kapelle, in der nicht mehr als ein Dutzend auf einmal ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben können. Generell scheint Selysses Sakralbauten zu meiden, auch wenn er in ihnen verwahrte Gemälde von Pisanello oder Giotto studiert und bewundert, sieht er über die Bauten selbst so gut wie hinweg.

Der Baumeister des Antwerpener Bahnhofs hatte sich vom neuen Bahnhof Luzern inspirieren lassen, dessen Kuppelbau, wie wir in einer Fußnote erfahren, 1971 von einem Feuer gänzlich zerstört wurde. Fußnoten gehören zum Erscheinungsbild wissenschaftlicher Werke, in der Erzählprosa sind sie eher auffällig. Nun mag man in einem Erzählwerk, das auf so eigenartige Weise von Bildwerken durchsetzt ist, auf weitere Absonderlichkeiten gefaßt sein, wenn aber in einem Gesamtwerk von mehr als tausend Seiten, nur eine Anmerkung dieser Art zu finden ist, sieht man sich zu besonderer Aufmerksamkeit aufgefordert. In Luzern brennt der Antwerpener Zwilling, oder auch: in Luzern zeigt sich in der Zerstörung dessen verborgene Wahrheit, denn auch die anderen Bahnhöfe sind zerstört. Das einst weit über Prag hinaus berühmte Bahnhofsbauwerk im Jugendstil war 1919 zum Andenken an den freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde er dann aber in der Folge zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton.
Das Erlebnis des im Umbau begriffene Teil des Londoner Bahnhofs, den Austerlitz durch einen Bauzaun betritt, ist offenbar inspiriert von den phantastischen Ruinen- und Kerkerbildern des Giovanni Battista Piranesi. Er sah riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, Gewölbe und gemauerte Bogen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer weiter hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, dachte er. Weit droben eine durchbrochene Kuppel, an deren Rändern auf einer Brüstung Farne wuchsen und junge Baumweiden, in das Reiher große unordentliche Nester gebaut hatten. Mitten durch diese Gefängnis- und Befreiungsvisionen zogen Erinnerungsfetzen wie die an das Schiff der wunderbaren, auf weiter Flur allein sich erhebenden Kirche von Salle in Norfolk. Die Kirche von Salle, nicht weiter beschrieben und wohl keine Kathedrale im engeren Sinne, aber doch geeignet in ihrer unverletzten Schönheit Austerlitz' Erleuchtungs- und Verklärungs- erlebnis zu veredeln.

Aurach lebt in einem entvölkerten Manchester, das sich nicht bewährt hat als neues Jerusalem des Industriezeitalters. Der Maler Aurach bevorzugt ohnehin, wenn es um Jerusalem geht, das winzige Modell des Tempels, das Frohmann aus Drohobycz auf dem Schoß hält. Austerlitz führt der Weg durch eine Reihe geschundener Kuppelbaubahnhöfe, denen es nicht gelungen ist, glaubhaft an die Stelle der Kathedralen zu treten. Kapellen wie die in Krummenbach könnte Austerlitz Liste in die Liste der Bauten aufnehmen, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Von der Kirche zu Salle könnte er ein Modell aus Fichtenholz, Papiermaché und Goldfarbe fertigen, wie Frohmann es mit seinem Tempelmodell vorgemacht hat.

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