Sonntag, 29. Mai 2016

Bibelstunde

Buch Mose

Nicht immer springt in Pfarrhäusern der fromme Funken über vom Vater auf den Sohn, er geht verloren oder ändert Art und Richtung, wie im Fall von Benn, der es gleichwohl mit den Mönchen hielt, oder im Fall von Cioran, der mit seinem Gott mehr als nur gehadert hat. Austerlitz, zu der Zeit noch Dafydd Elias, ist vergleichsweise entspannt. Durchaus hat er die Wortgewalt des Ziehvaters bewundert, der am Sonntag als Prediger vor die Gemeinde trat und die Qualen der Verdammnis auf der einen Seite und das Eingehen der Gerechten in das klare Himmelslicht in so leuchtenden Bildern schilderte, daß die Zuhörerschaft am Ende des Gottesdienstes mit kalkweißem Gesicht nach Hause ging, selbst war er offenbar aber weitgehend immun.

Das Buch der Bücher, das eine Buch aus vielen Büchern, das Buch, das herausragt unter den Büchern, das die anderen Bücher vergessen läßt. Es gibt keinen Hinweis auf andere Bücher im Haus des Predigers Elias, wenn man absieht vom Kalendarium der calvinistischen Methodisten in Wales, einem grauen, ziemlich fadenscheinig schon gewordenen Büchlein, in dem er seine Predigten und die Predigtorte verzeichnete, also zum Beispiel unter dem 3. August 1941: Chapel Uchaf, Gilboa - Zephanaiah III/6 I have cut off the nations. Keine dieser Predigten hat er je niedergeschrieben, vielmehr erarbeitete er sie nur in seinem Kopf, und es ist nicht sicher, ob er auch nur in der Bibel nachschlagen mußte, die er wohl ebenfalls vollständig memoriert hatte. Ebenfalls kein ausgewiesener Bücherfreund und ebenso ein Meister des mündlichen Vortrags ist der Schuster Evan, bei dem Dafydd in jeder freien Stunde gesessen ist. Seine Geschichten sind ihm viel besser eingegangen als die endlosen Psalmen und Bibelsprüche. Während Elias Krankheit und Tod immer in Zusammenhang brachte mit Prüfung, gerechter Strafe und Schuld, erzählte Evan von Verstorbenen, die das Los zur Unzeit getroffen hatte und die danach trachteten, wieder ins Leben zurückzukehren. Nurmehr kleinwüchsig, die Feldmauern knapp überragend, ziehen sie unter leisem Rühren der Trommel einher.

Die ein wenig boshafte Freude an den kalkweißen Gemeindemitgliedern hat sich offenbar erst nachträglich eingestellt, vom Naturell her war Austerlitz auf ein milderes Gottesverständnis eingestellt, falls überhaupt. Zwar erhält Dafydd die walisische Kinderbibel als Geschenk weil er das Kapitel von der Verwirrung der Zungen fehlerfrei und mit schöner Betonung auswendig herzusagen vermochte, ein daraus resultierender Frömmigkeitsschub ist aber nicht festzustellen. In Ermangelung anderer altersgerechter Literatur liest er die Bücher Mose als Abenteuergeschichte, Abenteuer allerdings, die ihn seltsam berühren. So ängstigt ihn die Stelle, als Moses das Kind in einem wasserdichten Kästchen auf Flußfahrt geschickt wird, in der Tiefe der Seele ist offenbar dunkel die Erinnerung an die eigene Verschickung angestoßen. Eine andere Episode, die ihn sehr anzieht, ist die Wanderung der Kinder Israel durch eine furchtbare Einöde. Mehr noch als der Text fesselt ihn die dazu passende Illustration. Die dargestellte Berglandschaft des Sinai erscheint ihm ganz wie die walisische Heimat, und unter den winzigen Figuren, die das Lager bevölkerten, weiß er sich am richtigen Ort. Die winzigen Figuren, das sind wohl einmal die Kinder, die wie Moses und er, Austerlitz, auf eine ungewisse Reise geschickt worden waren, und zum anderen, gleich groß, in endloser Zahl die miniaturhaften Toten, die, wenn man es so milde ausdrücken will, überall in Europa das Los zur Unzeit getroffen hatte. Es gibt, weder was Dafydd Elias noch was Jacques Austerlitz anbelangt, Hinweise auf ein weiteres Vordringen im Bibeltext bis hin zu den Evangelien und zur christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere nicht zur schwierigen Sache des Kreuzestodes, der heiligen Trinität und der Auferstehung des Fleisches.

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