Dienstag, 1. März 2016

Askese

Lebensreize

Sebalds Erzählwelt ist mehrheitlich von Asketen unterschiedlich strenger Observanz bewohnt. Unter anderem sind Selwyn und Bereyter zu nennen, Aurach, Austerlitz, die Ashburys, der Major Le Strange und die Mathild Seelos. Krieg und Vernichtung sind bei einigen als möglicher Grund ihrer Lebensweise angedeutet. Wenn es eine Frage war, ob Poesie nach Auschwitz noch möglich sei, beantwortet sich die Frage, ob nach Auschwitz ein hedonistisches Konsumentenleben angemessen ist, von selbst und sie wird so gut wie immer falsch beantwortet. Michael Parkinson hält dagegen, in einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen. Benn generalisiert diese vereinzelte Erfahrung, wenn er die menschliche Gattung einigermaßen radikal auf zwei Subspezies beschränkt, Verbrecher und Mönche. Als Mönche sah er weniger Benediktiner und Franziskaner als vielmehr Leute wie sich selbst, Künstler strenger Observanz.

Während in der Alltagserfahrung bei dieser Definition die Verbrecher in erdrückender Überzahl sind, ist Sebalds Welt, eingeschlossen von Horizonten gewaltiger Verbrechen, in ihrem Inneren verbrecherfrei. Es fehlen nicht nur die Aktiven, die im Leben ihren Mann stehen, es fehlen so gut wie vollständig auch, so kann man Benn verstehen, die Verbrecher im Guten, Aktivisten und Rechtler, die sich gegen das Kapital und für die Menschenrechte und den Regenwald engagieren. Le Strange stiftet sein ebenso beträchtliches wie ungenutztes Vermögen nicht für gute Zwecke, er läßt es brach liegen und setzt die Haushälterin Florence Barnes als Alleinerbin ein, die, nachdem sie einen bescheidenen Bungalow erworben hat, auch nicht weiß, was weiter damit anzufangen.

Kein Wunder, wenn wir uns in dieser verbrechensfreien Welt wohlfühlen, aber warum stimmen und zumindest einige der Asketen obendrein so frohgemut? Die Art wie die Mathild Seelos Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Auch Le Strange, wie er herumgegangen ist in einem kanarienfarbenen Gehrock oder in einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft, ständig umschwärmt von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln, versetzt in eine heitere Stimmung. Mrs. Ashbury schließlich muß unweigerlich stillen Frohsinn hervorrufen, beschäftigt wie sie ist mit dem Sammeln von Blumensamen in Papiertüten, die schließlich in solcher Zahl unter dem Bibliotheksplafond hingen, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der sie, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand.

Benns strenger Ansatz reicht für die Erklärung der Heiterkeit nicht aus, eher schon der mildere Erklärungsansatz, den Blumenberg im Verein mit Nietzsche vertritt. Die Philosophen halten sich an die Definition des Menschen als eines sich langweilenden Wesen. Die ausgehende Antike konnte mit der Steigerung und Übersteigerung ihrer zirzensischen Reize der Langeweile nicht mehr Herr werden. Den Römern wurde es fad im Verlauf der Orgien. Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden: da erfand die Christen mit dem Heilige und dem Asketen eine neue Gattung von Lebensreizen. In Antonionis Film La notte wiederholt der neuzeitliche Latiner Marcello Mastroianni die römische Erfahrung. An der Seite von Jeanne Moreau in einer Nachtbar mit Entertainement äußert er: Das Leben wäre soweit erträglich, wenn man sich nicht vergnügen müßte. Le Strange nimmt sein Klausnerdasein nicht unmittelbar nach Bergen Belsen auf, erst nach aktiven zehn weiteren Jahren in der Gutsverwaltung wurde ihm fad.

Bei Benn scheint es sich um ein stabiles Verhältnis von, in seiner Diktion, Verbrechern und Mönchen zu handeln, bei Nietzsche und Blumenberg um ein Art Staffellauf: wenn das eine Prinzip an seine Grenze kommt, übernimmt das andere den Stab. Sebald richtet seinen Blick ungeachtet der Dominanz der Käufer allein auf die, die praktisch nie zum Einkaufen gehen, Lebemänner anderer Art.

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