Donnerstag, 4. Februar 2016

Trunksucht

In Tirol und anderswo

Wer in den siebziger Jahren zu einer internationalen Veranstaltung in die Volksrepublik Polen reiste, konnte erleben, wie die zuhaus unter einer preisbasierten Quasiprohibition leidenden Skandinavier der Verlockung des bei unbürokratischem Geldwechsel praktisch kostenlosen Wodkas kaum Widerstand entgegenzusetzen hatten, ihre geistige Frische blieb dementsprechend vom ersten bis zum letzten Tag des Aufenthalts gemindert. Die Iren und anderen Kelten schlugen sich, vermutlich aufgrund eines anhaltenden und gleichmäßigen Trainings, um einiges besser. In der Literatur gehen sie allen anderen voran unter der Leitung von Dylan Thomas, von dem es heißt, er habe sich mit Bedacht und System zu Tode getrunken hat. Brendan Behan, selbsternannter drinker with a writing problem, war ihm dicht auf den Fersen, Flann O'Brien blieb schon um einiges zurück, fast schon ein normaler writer with a drinking problem. Wahrhafte Temperenzler finden sich unter den keltischen Literaten kaum.

Der Trunksucht zuliebe macht der Dichter für einmal einen Unterschied zwischen Hauptdarstellern und Komparsen, Hauptdarsteller bleiben verschont. Der Erzähler ist gleichsam umgeben von Trunksucht aufgewachsen. Im übel beleumundeten Wirtshaus, in dessen Obergeschoß die Eltern ihre Wohnung hatten, hockten die Bauern bis tief in die Nacht hinein und tranken bis zur Bewußtlosigkeit. Jetzt, im Mannesalter, unterwegs von Oberjoch nach W., kehrt er beim Engelwirt ein und genehmigt sich einen halben Liter Tiroler, im Grunde eine besorgniserregende Menge für die Mittagszeit. Am frühen Morgen war er im Innsbrucker Bahnhof auf eine bereits um einen Kasten Gösser-Bier versammelte Sandlertruppe gestoßen, die der Spiritualität in ihrer prekären Doppeldeutigkeit recht nahe kam. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich die Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten.

Als namentlich benannten Trunkenbold lernen wir einzig den Jofferle Zufrass kennen, vermählt mit der Regina Zufrass, einer entsetzlich tüchtigen Frau, die ständig und selbst am Sonntag auf das strengste beschäftigt war. Jofferle verdingte sich als Fuhrknecht im Dorf herum. Die Regina war wenig zufrieden mit ihm, und er seinerseits fürchtete sich vor dem Heimgehen zu ihr. Man fand ihn oft betrunken neben der umgekippten Heufuhre liegen. Das Heu wurde wieder aufgeladen und das Jofferle von der Regina geholt. Anderntags blieben die grünen Läden ihrer Wohnung geschlossen. - Wie immer beim Dichter wächst auch im Fall der Trunksüchtigen die freundliche Nachsicht mit den Menschen, je mehr sie Gestalt annehmen und uns leibhaftig vor Augen treten. Naturgemäß ist das keine Aufforderung, das trunkene Treiben gutzuheißen, auch wenn man es dem Jofferle schwerlich verdenken kann.
Ein erneuter Blick auf Polen fällt zugleich auf Marek Hłasko. Die näheren Umstände seines Todes sind ungeklärt, Alkohol aber war so oder so mit im Spiel. Auf einigen späten Bildern sieht er, in entsprechender Pose, gerade so aus, wie der dem Geschwindigkeitsrausch verfallene James Dean zweifellos ausgesehen hätte, wären ihn zehn weitere Jahre vergönnt gewesen. In der Stadt Kielce wurde für Hłasko ein Denkmal aufgestellt, im Mundwinkel eine Zigarette, der er noch enger verbunden war als dem Alkohol. Es ist nicht bekannt, ob irgendwann und an anderer Stelle noch jemand auf diese den Bemühungen der Gesundheitsfürsorge entgegenlaufende Weise geehrt worden ist. Im vergangenen Jahr ist posthum ein Frühwerk Hłaskos erschienen, Wilk. In Polen war das eine kleine literarische Sensation, die jenseits der Grenzen unbemerkt blieb.

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