Montag, 1. Februar 2016

Schweigsam

Alleinreisende

Alleinreisende sind in der Regel dankbar, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden. Verschiedentlich hat es sich bei solchen Gelegenheiten sogar gezeigt, daß sie dann bereit sind, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. In der Regel: man könnte glauben, es handele sich um ein allgegenwärtiges Phänomen, Sebalds Erzähler müßte immer wieder auf Leute wie Austerlitz treffen, und Austerlitz müßte seine Geschichte immer wieder geduldigen Zuhörern in Bahnhöfen und an anderer Stelle erzählen. Beides trifft offenbar nicht zu, der Erzähler begegnet im gesamten Werk keinem zweiten Alleinreisenden, der sich ihm rückhaltlos öffnet, und wenn er Austerlitz unter den unwahrscheinlichsten Umständen im Café des Espérances im Lüttich oder in der Salon Bar des Great Eastern Hotel in London wiedertrifft, setzt der seine Erzählung genau an der Stelle fort, an der er sie beim letzten Mal unterbrochen hatte, ein eingermaßen sicheres Indiz dafür, daß er in der Zwischenzeit geschwiegen hatte. Der Erzähler trifft bei weitem mehr Alleinhausende als Alleinreisende.

Aurach ist von Haus aus kein Alleinreisender. Das Warten auf den Bahnhöfen, die Lautsprecheransagen, das Sitzen im Zug, die Blicke der Mitreisenden, all das ist ihm eine einzige Pein, darum ist er auch in seinem Leben so gut wie nirgends gewesen. Auch beim Richter Farrar oder beim Landwirt Garrad denkt man nicht ans Reisen, in ihrem Atelier, ihrem Rosengarten, ihrer Scheune sind sie aber verhältnismäßig auskunftsfreudig. Der Erzähler ist für seine Erzählung angewiesen auf diese Auskünfte, aber so recht gefallen aber will ihm die Wortflut nicht. Er ersinnt den Major Le Strange, der Florence Barnes als Haushälterin engagiert unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnimmt, auch er selbst wird naturgemäß das Schweigegebot einhalten. Und er ersinnt die Mathild Seelos, die von ihren Münchener Eskapaden in einem nahezu sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. In ihrer Eingezogenheit hat sie sich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, hat etwas durchaus Heiteres gehabt. Heiter stellen wir uns auch Le Strange in seinen späten Jahren vor. Erheitert die Prosa die Figuren oder ist es umgekehrt? - man wird es nicht unterscheiden können.

Auch wenn Le Strange weniger schweigsam wäre, käme Selysses mit ihm nicht mehr ins Gespräch, denn er ist bereits tot, bereits tot sind auch Bereyter und Adelwarth. Bereyter und Adelwarth hatte Selysses als Kind gekannt, den Großonkel Adelwarth hatte er nur ein einziges Mal gesehen, bei eine Familientreffen. Der Großonkel hatte eine Rede gehalten, an deren Inhalt er sich längst nicht mehr erinnern kann, nur soviel, daß er mühelos nach der Schrift redete und Wörter und Wendungen gebrauchte, von denen er, der Knabe, allenfalls ahnen konnte, was sie bedeuteten. Von dem was der redegewandte Adelwarth sonst noch gesagt hat in seinem Leben, sind kaum mehr Worte überliefert als die des Herrn am Kreuz. Er hat wohl immer weniger gesprochen.

Als Aurach des Redens müde ist, gibt er Selysses das Tagebuch der Mutter zum Lesen. Auf dem Schreibtisch des Erzählers liegt auch das Agendabüchlein des Ambros, das ihm die Tante Fini bei seinem Winterbesuch in Cedar Glen West ausgehändigt hatte. In dem Agendabuch erfahren wir mehr über Cosmo Solomon als über Adelwarth selbst, der sich gleichsam hinter Cosmo versteckt. Mathilde Seelos hinterläßt keine Aufzeichnungen, immerhin aber eine Bibliothek, in der unter anderem religiöse Werke spekulativen Charakters und Gebetsbücher mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein neben Traktaten von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner und Landauer standen. Die schweigende und zugleich beredte Bibliothek der Mathild ist Selysses in zunehmenden Maße wichtig geworden. Le Strange, an Verschwiegenheit unübertroffen, hinterläßt, nach allem was wir erfahren, weder Aufzeichnungen noch eine Bibliothek.

Übertrieben wäre naturgemäß der Wunsch, das gesamte Oeuvre würde von Mathild Seelos erzählt, so daß der uns vertraute sebaldnahe Erzähler, Selysses, in die zweite Position rücken würde, aus der heraus er ihr, der Mathild, erzählt, was Marie de Verneuil ihm über Austerlitz erzählt hat, der ihr erzählt hatte, wie Penelope Peacefull das Kreuzworträtsel löste, während aus dem Radio leise Stimmen drangen, die von einem Kindertransport im Jahre 1939 von Prag nach England erzählten. Die Stimmen aus dem Radio sind kaum mehr vernehmlich, sie verstummen, und Schweigen breitet sich aus.

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