Mittwoch, 9. Dezember 2015

Membran

Unversorgt

In einem Gespräch stellt Sebald klar, was ohnehin klar ist: irgendwelche künstlerischen Ansprüche sind mit den in das Prosawerk eingegangenen Photos aus der eigenen Kamera nicht verbunden; das gilt ebenso auch für die Photos aus anderer Quelle. Gerade ein sogenannter Schnappschuß aber könne, anders als ein gemaltes Bild oder eine Kunstphotographie, einen Erzählreiz auslösen, das Verlangen, eine dazu passende Geschichte zu schreiben. Der Unterschied zwischen einfachem Photo und gestaltetem Bild sei diffizil und reiche in metaphysische Tiefen. Er mag tief reichen, aber auch an der Oberfläche läßt sich einiges feststellen. Der Schnappschuß ist aus der Zeit gerissenes Fragment und hinterläßt Wunden auf beiden Seiten des Risses, im mit großem Zeitaufwand gemalten Bild sind die Wundränder versorgt, die Wunden so gut wie verheilt.

Längst nicht von allen Photos im Prosawerk geht der Anreiz aus, eine Geschichte zu erzählen, wie es etwa bei dem Bild der Fall ist, das die Tante Fini und andere Familienmitglieder in der neuen Welt unter dem Gemälde des heimatlichen W. zeigt. Das Eintrittsbillet zum Giardino Giusti oder das vom Brigadiere ausgestellte Verlustdokument haben Souvenircharakter. Sebald selbst erläutert, daß er die Kamera als Notizbuch nutzt. In der Vorlichtbildzeit haben die Dichter ihre Manuskripte gern mit Zeichnungen versehen, zum Zeitvertreib, wenn die Worte sich nicht einstellen wollten, aber auch um sich, bei hinreichender graphischer Begabung, selbst ein Bild von dem verbalen Geschehen zu machen. In der Buchausgabe fehlen diese Randzeichnungen dann, in der sowjetischen Gesamtausgabe der Werke Puschkins, um dieses Beispiel zu wählen, sind aber zahlreiche Ablichtungen von Manuskriptseiten eingefügt. Sebald hat seine Photonotizen als Teil der Buchausgabe belassen. 

Was fangen wir an mit den Bildern? Mit den Worten des Argentiniers Sergio Chejfec lesen wir Sebalds Prosa voller Bewunderung und in reiner ästhetischer Freude, die Bilder können diesen Zustand allenfalls durch Kontrastwirkung noch steigern. Irgendwann geht es jedem Leser mit den Buchstaben so, wie es Rilkes Panther mit den Gitterstäben geht, und dann mag er sich gemeinsam mit Austerlitz über das doppelseitige Bild eines Wüstencamps in der walisischen Kinderbibel beugen, bald aber schon vertraut er wieder Austerlitz' Deutungsvermögen mehr als dem eigenen. Dann und wann begehren die Bilder auf gegen die geringe Beachtung, die ihnen zuteil wird. Man blättert um und stößt auf das aggressiv doppelseitige Bild zweier Billardkugeln, die eine weiß, die andere schwarz. Man blättert erneut um und liest weiter. Und doch können die Bilder beruhigt sein, man ist an sie gewöhnt und will sie nicht missen. Zwar würden die Texte auch ohne die Bilder ihre Leser finden, die Bilder ohne Texte dagegen kaum Betrachter, Verlangen nach einer bildbereinigten Ausgabe der Prosawerke hat niemand. Die Bilder sind da, wie die Welt außerhalb des Textes immer da ist, nur nicht gar so weit draußen, something in between, some third thing, eine Schutzschicht vielleicht, eher noch eine Membran.

Keine Kommentare: