Mittwoch, 2. September 2015

Identitätsnachweise

À travers l'étoffe de ma veste

Identitätskrise war eines der Schreckensworte der sechziger und siebziger Jahre, Sebald rettet wenn nicht das Wort so doch die Sache und nicht ohne Spaß dabei zu haben in die Achtziger. Die Schilderung des Paßverlustes in Limone am Gardasee zählt zu den humoristischen Highlights im Werk. Selysses ist von dem Verlust wenig beeindruckt und hält auch die Verlustmeldung bei der Polizei für überflüssig. Später, im deutschen Konsulat zu Mailand, ist er weitaus mehr an der Artistenfamilie Santini interessiert als am neuen Identitätsnachweis. Den Ersatzpaß in der Hand, gerät er vollends in eine tiefe Orientierungs- und Identitätskrise. Von seinem Aussichtsposten auf der obersten Galerie des Doms aus kann er sich nur mit Mühe darauf besinnen, daß es sich bei weit unten über das Pflaster hastenden Personen um lauter Mailänder und Mailänderinnen handelt und wer er selbst ist, weiß er auch nicht so recht. Schließlich ist ein Paß auch mehr für die Außenwirkung, für die anderen, gedacht als für den Inhaber selbst. Eindeutig ist die Trennung von Innen- und Außenwirkung allerdings nicht: À la terrasse d'un petit café, au soleil, j'ai tâté à travers l'étoffe de ma veste l'extrait de mon acte de baptême. Depuis, bien de choses avaient changé, il y avait eu bien de chagrins, mais c'était tout de même réconfortant d'avoir retrouvé son ancienne paroisse. Auch der Taufschein ist als traditioneller Identitätsnachweis eher nach außen als nach innen gerichtet, für Modianos Erzähler aber wird er zu einem Talisman, den er zur Festigung seiner selbst nahe am Herzen trägt.

Wir begegnen auch weniger formellen, nichtamtlichen Identitätsnachweisen wie einem Hut und einer Barke. Im deutschen Konsulat zu Mailand wartet gemeinsam mit Selysses ein gewisser Giorgio Santini, Artist seines Zeichens. In der Hand hält er denselben Hut, mit dem Pisanello auf seinem Bild San Giorgio con cappello di paglia den heiligen Georg ausgestattet hat. Das Alias der leichten Namensveränderung ist aufgeflogen, hinter Giorgio Santini verbirgt sich San Giorgio. Wem aber gilt der Identitätsnachweis? Der Erzähler, Selysses, äußert sich nicht. Den Lesern, abgesehen von einigen ausgewiesenen Pisanellokennern, fehlt der Entschlüsselungsansatz, da Pisanellos Bild in der Erzählung erst hundert Seiten später vorgestellt wird. Und Giorgio Santini selbst, ist er über sein Vorleben als Heiliger orientiert oder nicht?

Eine andere über die Jahrhunderte sich erstreckende Identität: Nach einem Navigationsfehler des Ruderknechts scheint der Jäger Gracchus auf ewig an seine Barke gefesselt, wir sehen ihn verschiedentlich auftauchen und verlieren ihn dann aus den Augen. Als der Jäger Hans Schlag, ursprünglich ebenfalls eine Erfindung Kafkas, im Allgäu zu Tode stürzt, verzeichnet der Obduktionsbericht eine am linken Oberarm eintätowierte kleine Barke. Lebensläufe, die sich von der hinteren Wand der Ewigkeit lösen, kommen offenbar mit behördlichen Identitätsbescheinigungen nicht aus, Symbole überbrücken die verschiedenen Phasen ihrer für unser Auge lückenhaften Existenz.

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