Dienstag, 11. August 2015

Sterbezimmer

Hej Boginie! Wszystko zginie

Wenn die Erinnerung nicht trügt, eröffnet Bondartschuks Verfilmung von Krieg und Frieden unmittelbar mit der Sterbeszene des Kirill Wladimirowitsch Besuchow, so daß sie noch mehr Gewicht erhält, als sie bereits im Buch hat. Llorenç Villalonga läßt einen kompletten, wenn auch eher kurzen Roman, Mort de dama, im Sterbezimmer sowie im Vorzimmer des Sterbezimmers der Obdúlia Montcada spielen. Zugang zum Sterbezimmer erhalten nur einige wenige, der Rest der vorgeblich Trauernden, vor allem aber die Aussichten auf ein Anteil am Erbe Berechnenden sind, wie auch bei Tolstoi, auf das Vorzimmer verwiesen. Ähnlich zahlreich wie die Stunden oder Tage vor dem Tod sind in der Literatur die Stunden oder Tage nach dem Tod, die Totenwache, erfaßt. Joyce hat der Totenwache, vertraut man dem Titel, mit Finnegans Wake ein umfängliches Buch gewidmet.

Nichts war ihm in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage der Erinnerung, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen, als seien ihnen die Wohnungen aufgekündigt worden. Die bekundete frühe Hingezogenheit zu den Toten setzt sich fort und hinterläßt allenthalben Spuren im Werk. Selysses folgt den Spuren von Thomas Browne und den Fragen der Urnenbestattung. Auf Korsika fesselt ihn vor allem der Totenkult. Austerlitz wird in Wales vom Schuster Evans mit dem Reich der Toten vertraut gemacht. Später dann, bei der Erkundung Londons, wird offenbar, daß die großen Städte auf Leichenbergen erbaut sind, Gräber sind durch Gräber gegraben, bis auf dem ganzen Acker die Gebeine kreuz und quer durcheinander liegen. Es ist berechnet worden, daß in jedem aus der Grube entfernten Kubikmeter Abraum die Gerippe von durchschnittlich acht Menschen gefunden worden sind. Wen kann es da verwundern, wenn der Venezianer Malachi, der viel nachgedacht über die Auferstehung und zumal über den Satz, demzufolge unsere Gebeine und Leiber von den Engeln dereinst übertragen werden in das Gesichtsfeld Ezechiels, auf seine Fragen Antworten nicht gefunden hat.

Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch. Ein Stück außerhalb des besiedelten Areals im Becken des Kongoflusses stößt man auf einen Platz, an dem die von Krankheit zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht, Schattenwesen, die jetzt frei sind, frei wie die Luft, die sie umgibt und in die sie sich nach und nach auflösen werden. Auch die Protagonisten der Vier langen Erzählungen legen sich nieder, Selwyn und Bereyter auf eine dramatische Weise, bei Aurach wissen wir nicht, welche Art des Sterbens er wählen wird. So ausführlich der Umgang mit den längst Toten ist, so kurz angebunden und einsam das Sterben. Keine Rede von einem Sterbezimmer oder einer Totenwache, auch an der Bestattung nehmen wir nicht teil. Vermerkt wird der Tod und das Doppelbegräbnis von Evelyn und Alphonso Fitzpatrick. Als sich der Trauerzug auf den Friedhof von Cutiau zubewegt wird der Blick des Lesers sogleich zu Turners Aquarellskizze Funeral at Lausanne umgelenkt, auf der mit einigen Pinselstrichen die sogleich wieder zerfließenden Visionen des Malers festgehalten sind. Mit dem Sterben im Kreise der Lebenden und, wie man dachte, unter den Augen Gottes ist es vorbei. Die Toten haben keine Nachfahren oder Erben, eine Gegenwart ohne Zukunft läuft aus oder läuft endlos dahin.

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