Dienstag, 21. Juli 2015

Wahrheit der Geschichte

Kinderszenen

In seinem Buch Kinderszenen schreibt Rymkiewicz: Die Schönheit des Warschauer Aufstands, seine symbolische Schönheit, das sind Dinge, die erst viele Jahre später in Erscheinung traten. So ist es immer bei großen historischen Ereignissen, ihr wahrer, dauerhafter, symbolischer Gehalt, der zunächst nur schwach sichtbar oder auch unsichtbar ist, erweist sich als ein Element der Ewigkeit. - An das Gegenteil gewohnt horcht man auf: um die Wahrheit sichtbar zu machen, so heißt es, müsse der mythologische Schleier heruntergerissen werden. Rymkiewicz ist auf diesen Einwand gefaßt und antwortet: Erstens müsse der symbolische Gehalt die konkreten historischen Einzelheiten, das Leid, das massenhafte grausame Sterben nicht verdrängen, und zweitens po prostu nie ma na to rady, man kann gar nichts machen, wenn in der Geschichte etwas wirklich Wichtiges geschieht, ist es unumgänglich, daß es in unseren Köpfen früher oder später eine symbolische Gestalt annimmt.

André Hilary hat Napoleons Aufstieg und Fall in allen Einzelheiten studiert, sein Glanzstück ist zweifellos die Schlacht von Austerlitz gewesen. Wenn wir aber versuchen, die Wirklichkeit eines Schlachtgeschehens wiederzugeben, so drängt sich uns nach den Worten Hilarys das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war, der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liege. Rymkiewicz zerbröselt die historischen Fakten mit poetischer Obstinanz, hinter jeder Gewißheit erscheinen tausend Ungewißheiten, Nährboden der entstehenden symbolischen Gestalt. Zählt sie zu den vorgefertigten Bildern, oder ragt sie hinein in das noch Unentdeckte?

Für den ersten Blick erscheint Geschichte als politische Geschichte und damit vor allem auch als Geschichte blutiger Kriege und Auseinandersetzungen. Daneben eröffnet sich die Diszipilinenvielfalt von Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Geschichte der Stadtentwicklung &c. Einen separaten Platz beansprucht seit jeher die Geschichte der Kunst als der bevorzugte Ort der Entwicklung symbolischer Gestalten. Selysses sieht Tiepolo zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritztem Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen, und er sieht die Kreuzwegstationen in der Krummenbacher Kapelle, deren Schöpfer sich vielleicht nicht weniger gemüht hat. Für den Betrachter der Bilder und Fresken Tiepolos aber ist alle Müh und Plage entfallen. Aurach erinnert sich an eine Kinderszene, wie er an der Seite des Onkels mit verrenktem Hals in die für ihn zu jener Zeit bedeutungslose Pracht des Deckengemäldes emporschaut. Erst viel später dann, beim Durchblättern eines neuerschienenen Bildbandes, habe er sich lange nicht losreißen können von den Reproduktionen der monumentalen Würzburger Freskomalerei. Einen ganzen Abend sei er über diesen Bildern gesessen und habe versucht, mit einem Vergrößerungsglas tiefer und tiefer in sie einzudringen.

Rymkiewicz hat seine Jugend in der Kriegszeit verbracht, alles in allem wenig beeindruckt von dem Geschehen. Seine, wie er weiß auf Gegenseitigkeit beruhende Freundschaft zu den Tieren, den Katzen, Pferden, Schildkröten und Krebsen, ist nicht beeinträchtigt. Nimmt die Belästigung an anderer Stelle überhand, wünscht er seine polnischen Vater durch einen türkischen ersetzt, mit dem er frei von allem Ungemach in Istanbul lebt. Dann wiederum, rasend vor Ärger und Zorn darüber, daß die ältere Schwester Schlittschuhlaufen kann, Schlittschuhe besitzt und sie auf der Eisfläche der Dolina Szwajcarska zu Einsatz bringt, während er, der kleine Jaroslaw Marek, nicht Schlittschuhlaufen kann, keine Schlittschuhe hat und zum Zuschauer degradiert ist, erträumt er einen Einsatz der Gestapo, die alle Besucher des Vergnügungsparkes festnimmt und abtransportiert oder, besser noch, gleich durch Maschinengewehrgarben erledigt, so daß er bald darauf als der letzte Schlittschuhläufer der Dolina Szwajcarska das Eis betritt und Pirouetten Sprünge von ungeahnter Eleganz und Schönheit darbietet, die zu bewundern allerdings niemand mehr da ist. Kinderszenen, den deutschen Titel des polnischen Buches hat Robert Schumann vorgegeben.

Mittwoch, 15. Juli 2015

Was die Zukunft bringt

Panmorbosina

Llorenç Villalonga, außerhalb Kataloniens und Spaniens allenfalls für den in der jüngeren mallorquinischen Vergangenheit spielenden Roman Bearn bekannt, veranlaßt gegen Ende seiner in den frühen fünfziger Jahren verfaßten Erzählung La novel·la de Palmira einen Zeitsprung in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und garniert ihn mit diversen utopischen Details. So verdanken die Protagonisten ihr Fortleben einem zwischenzeitlich entwickelten Allheilmittel mit dem sprechenden Namen Panmorbosina. Das daraufhin sprunghaft einsetzende Anwachsen des Lebensalters wird durch eine Rechenmaßnahme kaschiert, die Hundertjährigen gelten fortan als Achtzigjährige, die Achtzigjährigen als Sechzigjährige. So nett und harmlos es sich anhört, naturgemäß ist nichts davon eingetreten. Die Sexualität, so eine weitere Vorhersage, würde erheblich an Wertschätzung verlieren, als überlebende Zeitzeugen können wir auch das nicht bestätigen. Der Erzähler selbst kümmert sich dann aber auch wenig um seine Prophezeiungen, und die Geschichte nimmt ihren Fortgang und findet ihr Ende, als habe das zwanzigste Jahrhundert noch gar nicht recht begonnen, geschweige denn das einundzwanzigste sei frühzeitig eingeläutet. Die Pariser Theaterbühnen spielen Racine und Molière wie eh und je, Maupassants Erzählungen sind noch gegenwärtig in den Köpfen.

Eine Unordnung der Zeiten ist bei Sebald in dieser Art naturgemäß nicht anzutreffen. Aus der Erzählgegenwart ist der Blick oft in die Vergangenheit gerichtet, kaum je in die Zukunft. Als die Schwindel.Gefühle ausklingen aber wird ein ähnlich weiter Zeitsprung nach vorn vollzogen, allerdings äußerst wortkarg und ohne pittoreske Einzelheiten: -2013- Ende. Welches Ende ist gemeint? Wer sich auf das Weltenende verlassen hatte, muß einräumen, daß der Termin auch bei Zubilligung einer gewissen Unschärfe nun bereits verstrichen ist, wie so viele vor ihm. Durchgehend ist in den Schwindel.Gefühlen von zwei Zeitenwenden, zwei verspäteten Jahrhundertwenden die Rede, der von 1813, als Napoleons Stern zu sinken begann, und der von 1913, als die Zeit sich wendete und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlang lief. Woran wäre das verspätete Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, die Zeitenwende von 2013 festzumachen? Sicher haben Menschen der Generation Sebalds zunehmend das Gefühl, daß die Welt die letzten der ihnen vertrauten Züge verliert, aber was konkret wäre zu nennen. Vieles wäre zu nennen, die nicht endende Finanz- und Schuldenkrise, der aufflammende Terrorismus, der neue kalte Krieg. Das alles konnte der Dichter nicht in dieser Schärfe voraussehen, wohl aber eine Lage, in der die metaphorisch Buckligen und Irren in Brüssel zunehmend ratlos sind.

Auch Villalongas fast in der Weise der naiven Malerei fröhliche Einfügung utopischer Details in den Fortgang des gewohnten Lebens bringt eine Wahrheit an den Tag: die Ungleichzeitigkeit der Zeitenwenden, die einen hören das Gras der neuen Zeit wachsen, die anderen bewundern die Eiche, die schon hundert Jahre steht. Mehr als hundert Jahre zurück liegt die Blüte der Erzählliteratur des süddeutschen Sprachraums, an die Sebald eingestandenermaßen anschließt. Das Gras unserer Tage hat er nicht weniger im Blick, es scheint weniger zu wachsen als zu welken, was er hört, ist ein trockenes Rascheln. Ein sparsamer und wenig froh stimmender Blick in die Zeit nach 2013 ist uns erst jetzt möglich.

Mittwoch, 8. Juli 2015

Schreibmaschinen

L'homme qui tape

Der Brigadiere setzte sich an eine altmodische, überdimensionale Schreibmaschine mit einem fast einen Meter breiten Wagen, spannte einen Bogen Papier ein und verfertigte, indem er den Text halb vor sich hin sprach, halb vor sich hin sang, ein Dokument, das er, als die letzte Zeile geschrieben und das ganze ordnungshalber noch einmal durchgesehen war, mit einem demonstrativen Schwung aus der Walze riß und zuerst mir, der ich diesem Akt der Amtswaltung sprachlos gefolgt war, und dann Luciana zur Unterschrift vorlegte, ehe er selbst unterzeichnete und, zur Vervollständigung des Werkes, mit einem rechteckigen und einem runden Stempel versah.

Tiefe, im Kinosaal gewonnene Bildeindrücke aus unserer Jugend lassen sich heute nicht mehr wiederholen. Maigret konnte seine Fälle nicht ohne Pfeife im Mund lösen, Sam Spade nicht ohne Zigarette. Daniel Craig zeigte sich dieser Tage verwundert, daß er in den Bondfilmen zwar jedwedem die Birne wegblasen, sich aber auf keinen Fall eine Kippe anstecken darf. Massive Verschiebungen im Sittengesetz sind festzustellen, die Fest der Freiheit mündet in die Lizenz zum Töten, der Abschied vom ewigen Lebens gebiert die Order zum langen Leben, eine Order, die sich mit Tabakgenuß, so heißt es, nicht vereinbaren läßt. In den meisten Fällen aber sind es weniger unsere Werte als das Voranschreiten der Technik, das uns verarmen läßt. Wir haben Jean Gabin vor Augen am halböffentlichen Telephon in der dunklen Ecke einer Bar, Bogart, wie er am in der Höhe des Kopfes angebrachten Wandtelephon die Wählscheibe bedient, die Hörmuschel bereits in der anderen Hand. Heute schauen die Kommissarinnen und Kommissare intensiver auf ihr Smartphone als auf den Tatort, uns sagt das nichts. Die Schreibmaschine, in die der Inspektor mit zwei Fingern geduldig das Verhör eintippt, bis der entnervte Verdächtige alles gesteht, hat akustischen Aufnahmegeräten und einem virtuos bedienten PC Platz gemacht, die atmosphärischen Verluste sind enorm, der kriminalistische Gewinn zweifelhaft. Die Dichter aber bewahren die Erinnerung: Cet homme dont j'ai oublié les traits du visage tapait mes réponses à la machine au fur et à mesure que je lui déclinais mon état civil, mon adresse et une prétendue qualité d'étudiant. Il m'a demandé à quoi j'occupais mes loisirs. Enfin, il s'est résolu à taper la phrase suivante: Je passe mes loisirs au cinéma et dans les librairies. Je n'ai jamais fréquenté le café de la Tournelle.
Nicht wenige sammeln und hegen alte Schreibmaschinen, in Restaurants sind sie zum Zweck der Pflege des Ambientes eingesetzt. Die Schreibmaschinen der Dichter sind keine musealen Stücke, sie tun ihren Dienst, die Maschine mit dem riesigen Wagen (eine Olivetti?) ist unserer aller bleibende Freude. Der Brigadiere reiht sich ein in die lange Reihe der Figuren, die in Billy Wilders Avanti, Avanti Jack Lemmon von einem Italienverächter in einen leidenschaftlichen Liebhaber des Landes verwandeln, zugegebenermaßen mit tatkräftiger Unterstützung der Engländerin Pamela Piggott, ohne die es nicht hätte gelingen können. Modiano, bei dem die Luft immer von einem leichten Wind des Bösen durchweht ist, versetzt uns in einen alten Film noir ohne Farbe. L'homme qui tape in Un cirque passe ist, wie sich dann zeigt, von genreuntypischer Menschenfreundlichkeit.

Mittwoch, 1. Juli 2015

Parataxe

Nebelweiten

In der Besprechung des Buches* einer jungen, sich vorwiegend in kurzen Hauptsätzen äußernden Autorin wird auf Adorno verwiesen: Das hauptsatzlastige Schreiben sei ein Verfahren, das die Annahme negiert, ein Subjekt könne mithilfe der Sprache die Wirklichkeit bewältigen und ordnen. Die Parataxe stelle stattdessen einen Bezug zur Erfahrung des Heterogenen, des logisch nicht Subsumierbaren her. Parataxe wäre der Satzbau nach Menschenmaß, Hypotaxe der Hybris verdächtig. Romane sind, selbst wenn sie parataktische Sätze bevorzugen, letzten Endes eine riesige Hypotaxe von Themen, Handlungssträngen und Motiven und man kann Menschen treffen, die das Lesen von Romanen ablehnen, da sie in dieser Gattung grundsätzlich Gewalt und Anmaßung vermuten. Hinter Sebalds vielfach gerühmten Satzlandschaften aber wäre eine Hybris geradezu kriminellen Ausmaßes versteckt.

Falls Adorno die Wahrheit überhaupt trifft, trifft er sicher nicht die ganze und nicht die alleinige Wahrheit. Wer wollte unter Schwindelgefühlen die Wirklichkeit bewältigen, wer sie ordnen, wenn sie in seinen Augen unaufhaltsam auf ihren Untergang zuhält, wenn er selbst in einem unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit sich sehr schnell aus dem Leben entfernen könnte. Umso mehr ist dem Dichter daran gelegen, in der Sprache einen bewohnbaren Bezirk zu bewahren, und das selbstironische Lächeln der Sätze gilt nicht zuletzt dem gestalteten Mißverhältnis von beherrschter Form und chaotischem Inhalt.

In der Philosophie, abseits von Adorno, gab es die Hoffnung, ausgehend von schlichten Protokollsätze mit augenfälligem Inhalt ein unendliches Gebäude wahrer Sätze errichten zu können, in der Prosa suggeriert die Abfolge knapper Sätze Realitätsnähe, eine Nähe, die für nicht wenige Ohren durch das Einstreuen von Derbheiten noch erhöht werden kann. Die Wirklichkeit wäre durch bloßes Draufzugehen zu bewältigen, Hypotaxe bliebe den Seidenspinnern im Elfenbeinturm.

Une rue calme. Ils étaient les seuls passants. La nuit tombait. Rue bleue. Ce nom avait paru irréel à Bosmans. Ils se demandait s'il ne rêvait pas: Modiano bewegt sich am unteren Rand der Hypotaxe, keine sich ausbreitenden Satzgebilde, Hauptsätze, ein Haupt- und ein Nebensatz, oft nachgeschobene Teilsätze. Von Wirklich- keitsbewältigung mithilfe knapper Sätze kann keine Rede sein, kaum von Wirklichkeitsberührung. Immer wieder muß sich der Autor in Listen von Telephonnummern, von Adressen, vor allem aber im Straßenplan von Paris Haltegriffe verschaffen, um sich nicht vollends in den glänzenden Nebelweiten des Ungesagten zu verlieren. Die Wege der Sätze sind unergründlich.

*Christina Lenz über Julia Wolfs, wie es heißt, verstörendes Romandebüt, FR 16.6.15