Montag, 1. Juni 2015

Falsche Welt

Am Bächlein

Lange beobachtete ich den Waschbär, wie er mit ernstem Gesicht am Bächlein saß und immer denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das auf die Idee vom wahren Leben, von einer wahren Welt gekommen ist, dem Waschbären hat er immerhin einen Eindruck von der falschen Welt verschafft. Waschbären kennen von Haus aus keine falsche Welt, in ihrem realen, wahren und einzigen Leben besetzen sie leerstehende Wohnwagen und verteidigen sie dann resolut gegen die vermeintlichen Eigentümer.
Für die europäische Menschheit hat das Christentum während nahezu zweitausend Jahren der Idee vom wahren Leben eine verbindliche Kontur verliehen, verbunden mit der Festlegung, die wahre Welt könne nicht von dieser Welt sein. Die mit dem Anbruch der Moderne aufgekommene Annahme, die reale Welt müsse sich zur wahren Welt verändern lassen, hat nach wie vor zahllose Jünger, der alle und jeden überzeugende Erfolg aber hat sich bislang nicht eingestellt. Im Mittelalter und früher Neuzeit war es zu einer engen Verbindung von Religion und Kunst gekommen, eine der wenigen Koalitionen, die beiden Teilen zugute kam. Der Koalitionswechsel hin zur Politik und ihrem Veränderungsbestreben ist der Religion nicht gut bekommen, die Kunst hält an der Idee der metaphysischen Verwandlung mit feinen und, etwa im Fall Modianos, feinsten Mitteln fest.

Quelquefois la vie est monotone et quotidienne, comme aujourd'hui où j'écris ces pages pour trouver des lignes de fuites et m'échapper par les brèches du temps. Wohin soll diese Flucht aus dem normalen Leben führen, in die Vergangenheit? Le passé? Mais non, il ne s'agit pas du passé, mais des épisodes d'une vie rêvée, intemporelle, que j'arrache, pages à page, à la morne vie courante pour lui donner un peu d'ombre et de lumière. Also eher die Ewigkeit als die Vergangenheit, erst im Rückblick allerdings wird sie sichtbar und mit ihr das wahre Leben: Il me semble aujourd'hui que je vivais une autre vie à l'intérieur de ma vie quotidienne. Ou, plus exactement, que cette autre vie était reliée à celle assez terne de tous les jours et lui une phosphorescence et un mystère qu'elle n'avait pas en réalité. Ohne Sorge vor einem Fehlurteil läßt sich sagen, daß Modianos künstlerisches Verlangen allein und ausschließlich darauf zielt, diesem Phosphorglanz und diesem Mysterium eine Realität in der Kunst zu verleihen.

Viele werden die Lösung darin sehen, ein normales Menschenleben zu führen, so wie die Waschbären ihr normales Waschbärenleben führen. Auch die Dichter sind verführbar: Une fille s'avançait sous les feuillages des arbres du boulevard Jourdan. À quoi bon tâcher de résoudre des mystères insolubles et poursuivre des fantômes, quand la vie était là, toute simple, sous le soleil. Irgendwann aber muß man sich dann eingestehen: Nous aurons été pour si peu dans la vie.
Ist es Monica Vitti, die uns dort auf dem Boulevard Jourdan entgegenkommt? Ihr verborgenes wahres Leben ist Gegenstand der Trilogia esistenziale Michelangelo Antonionis. In L'eclisse (den deutschen Verleihtitel zu nennen, verbietet das Schamgefühl) ist das reale und, für jeden erkennbar, zugleich falsche Leben durch die Aktienbörse und Auswüchse der modernen Architektur dargestellt. Der eigentliche Film aber spielt sich in Vittis Gesicht ab, in ihrem Blick, der versucht, in der realen Welt Fuß zu fassen und dann gleich wieder abwärts nach innen gleitet, oft mehrfach hin und her in der Minute. Der noch sehr junge Zuschauer aber möchte immer in die Handlung eingreifen und die Vitti mit einem einzigen Wort darüber aufklären, daß sie bloß vom untauglichen Alain Delon ablassen und zu ihm die Hand müßte ausstrecken, um den rechten Gefährten für das wahre Leben zu haben.

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