Freitag, 12. Juni 2015

Kleinkunst

Weniges

Nabokow: Mir scheint, auf der Skala der Weltmaße gibt es den Punkt, an dem sowohl die Vorstellungen als auch die Wissenswerte ineinander übergehen, der Punkt der durch die Verkleinerung der großen und die Vergrößerung der kleinen Dinge erreicht wird: der Punkt der Kunst. Sebald: Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Proust: Il remarqua pour la première fois des petits personnages en bleu, que le sable était rose, et enfin la précieuse matière du tout petit pan de mur jaune. Ses étourdissements augmentaient ; il attachait son regard, comme un enfant à un papillon jaune qu'il veut saisir, au précieux petit pan de mur. C'est ainsi que j'aurais dû écrire, disait-il. Mes derniers livres sont trop secs, il aurait fallu passer plusieurs couches de couleur, rendre ma phrase en elle-même précieuse, comme ce petit pan de mur jaune.
Offenbar haben die Dichter gleiches im Sinn, aus unterschiedlicher Richtung nähern sich einem gemeinsamen Ziel, einer gemeinsamen Überzeugung. Nabokows Ausführungen kleiden sich als eine Definition der Kunst am Wegekreuz, an dem sich Groß und Klein treffen. Sebald gibt vor, Pisanello zu betrachten, der allem, dem Großen und dem Kleinen, die gleiche Daseinsberechtigung zuspreche, der Reflex auf die Kunst im allgemeinen und auf die eigene im besonderen ist aber nicht zu übersehen. Prousts Bergotte betrachtet auf Vermeers Ansicht der Stadt Delft zunächst die kleinen blau gekleideten Menschenfiguren und dann den kleinen gelben Mauerfleck, er könnte auch an anderer, an jeder beliebigen Stelle innehalten, alles ist gleichbedeutend, gleich groß und klein.

Lassen wir noch Modiano zu Wort kommen: J'ai connu Francis Jansen quand j'avais dix-neuf ans et je veux dire aujourd'hui le peu de choses que je sais de lui. Erzählt er von Francis Jansen, obwohl er wenig von ihm weiß oder weil er wenig von ihm weiß? Das Wenige ist nicht das Kleine, aber es ist ihm verwandt. Bei Pisanello vermutet man gleiche Daseinsberechtigung in der Fülle, bei Modiano in der Kargheit. Créer le silence avec les mots, wird als Aufgabe des Dichters ausgewiesen.
Friede den Hütten, Krieg den Palästen, auch dieser Aufruf nimmt seinen Ausgang vom Größenverhältnis. Sollte die Politik Gleiches im Sinn haben wie die Kunst - nicht wenige würde es freuen. Das Gegenteil ist aber wohl der Fall. Der politische Ansatz zielt offenbar auf Veränderung, während die Kunst eine Welt vor Augen hat, in der das Unbedeutende nicht weniger bedeutsam ist als Bedeutende, ihr Prinzip ist nicht die Veränderung, sondern die Verwandlung. Am unmittelbarsten vielleicht sagt es Bernhards Maler Strauch: Die hohe Kunst besteht darin, im Großen wie im Kleinen zu denken, fortwährend gleichzeitig in allen Größenverhältnissen. Das heißt naturgemäß nicht, einem Dichter wie Büchner sei eine politische Einstellung versagt, die auf die Zerstörung der Paläste zielt. Diese oder eine andere politische Einstellung kann durchaus auch als Motiv in ein Kunstwerk, sei es ein Bild oder ein Roman, eingehen, sie gewinnt dort aber keine größere Bedeutung als der kleine gelbe Mauerfleck. Folgt man den hier aufgerufenen Gewährsleuten, könnte mehr auch die sogenannte engagierte Literatur nicht leisten, wenn die denn Literatur sein will.

Der Venezianer Malachi, der in Cambridge Astrophysik studiert hat, sieht alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne. Wenn man so will, ein weiteres und eher gegenläufiges Verfahren zur Einebnung der Größenunterschiede, denn wenn für die Kunst alles groß ist, so ist aus der größten Entfernung gesehen alles klein. Die ursprünglich der Astrophysik abgewonnene Gewohnheit, betrifft längst auch diese selbst, denn altehrwürdige metaphysische Spekulationen über die Auferstehung der Gebeine und Leiber haben für Malachi inzwischen keine geringere Bedeutung als die moderne Wissenschaft von den Sternen. Ähnlich wie Malachi die Astrophysik verlassen hat, hat Modianos Photograph die Photographie als Kunstbereich verlassen und seinen Blickwinkel in gewisser Weise dem der Astrophysik angepaßt: Les quelques semaines où je l'ai fréquenté, ils considérait les êtres et les choses de très loin et il ne restait plus pour lui que de vagues points de repère et de vagues silhouettes.

Dienstag, 9. Juni 2015

Staubfetzen und Kehrschaufel

Versuch über den Schmutz

Glaubt man Thomas Bernhard aufs Wort, was naturgemäß einigen Mut erfordert, so hat er keine Stadt so geliebt wie Warschau. Im zweiten Kapitel seines Buches über das Hängen (Wieszanie) geht J.M. Rymkiewicz auf die immensen Hygieneprobleme der großen Städte im achtzehnten Jahrhundert ein. Zwar habe es Warschau, schon aufgrund seiner vergleichsweise überschaubaren Bevölkerung, weniger hart getroffen als London oder Paris, aber auch hier habe es überall ganz furchtbar gestunken. Den gegenwärtig lebenden Europäern sind derartige Erfahrungen so sehr erspart geblieben, daß zwischenzeitlich die Sauberkeit in Verruf geraten konnte, nicht wenige haben Christian Enzensbergers Versuch über den Schmutz begrüßt. Auch der Dichter hat eine wohl in dieser Zeit entwickelte Reinheitsphobie. Wenn sich in Deauville immer wieder die Fensterläden auftun, sei es im Parterre, sei es in der Beletage oder im oberen Stock, und eine Hand erscheint, die mit auffallend langsamer Bewegung ein Staubtuch ausschüttelt, so will er das fast als Zeichen des Bösen verstanden wissen. Der Staub hat es ihm regelrecht angetan, denkt man an das Fäkalienproblem vergangener Zeiten freilich ein vergleichsweise friedlicher Unrat.
Wenn das Staubtuch mit einem Bann belegt ist, so sind Besen und Rechen ins Außerweltliche entrückt. Ein Mensch, der zu einer abgewetzten Eisenbahneruniform einen schneeweißen Turban trug, fegte mit einem Besen einmal hier, einmal da etwas von dem auf dem Pflaster herumliegenden Unrat zusammen. Bei diesem Geschäft, das in seiner Zwecklosigkeit an die ewigen Strafen gemahnte, die wir, wie es heißt, nach unserem Leben erdulden müssen, bediente sich der in tiefer Selbstvergessenheit immer dieselben Bewegungen vollführende Mann statt einer richtigen Kehrschaufel eines an einer Seite aufgerissenen Pappdeckelkartons, den er mit dem Fuß Stück für Stück vor sich herschob, bis er eine niedrige Tür in dem vor der Innenfassade des Bahnhofs erreicht hatte, durch die er, ruckweise wie es schien, verschwand. - Wie alle Textabschnitte des Dichters kann man auch diesen in schlichter Weise realistisch lesen, sieht sich aber unmißverständlich auch zu einer phantastisch-surrealen Lesart eingeladen. Die Reinigungsleistung des Mannes mit dem Besen, dem Pappschachtel und dem weißen Turban ist gering. Er ist ein Verwandter von Kafkas Türhüter, er wacht nicht darüber, daß die für Austerlitz bestimmte Tür verschlossen bleibt, er öffnet sie ihm, indem er vorausgeht, man wird ihn nach Erfüllung dieser seiner einzigen Aufgabe nicht wiedersehen. Die Tür führt Austerlitz aus der Londoner Gegenwart in die Prager Vergangenheit, die er bis zum Ende des Buches nicht wieder verlassen wird.

Ich hörte die Luft aus- und einstreichen durch das Astwerk und das feine Geräusch, das der Gärtner machte beim Rechen der Kieswege zwischen den niedrigen Buchsbaumhecken, deren sanfter Geruch selbst jetzt noch im Herbst die Luft erfüllte. Schon die Staubtücher in die Deauville schienen wie von abgetrennten Armen bewegt, und man konnte nur vermuten, daß in den dusteren Interieurs zu ewig unsichtbarem Dasein und ewigem Abstauben verurteilte Frauenspersonen lautlos herumgehen und darauf lauern, daß sie einem zufällig vor ihrem Gefängnis stehenbleibenden und an der Fassade heraufblickenden fremden Passanten mit ihren Staubfetzen ein Zeichen geben können: wie kann man, wenn es so um die staubwischenden Frauenspersonen bestellt ist, von der Alltäglichkeit des Gärtners im Giardino Giusti ausgehen? Wenn Selysses den Garten verläßt, wird das Geräusch des Rechens verstummen, der menschenleere Garten wird sich bis zu allen Horizonten ausdehnen. Der Unterschied von Schmutz und Reinheit ist mit dem Menschen in die Welt gekommen und wird mit ihm wieder verschwinden aus ihr.

Montag, 1. Juni 2015

Falsche Welt

Am Bächlein

Lange beobachtete ich den Waschbär, wie er mit ernstem Gesicht am Bächlein saß und immer denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das auf die Idee vom wahren Leben, von einer wahren Welt gekommen ist, dem Waschbären hat er immerhin einen Eindruck von der falschen Welt verschafft. Waschbären kennen von Haus aus keine falsche Welt, in ihrem realen, wahren und einzigen Leben besetzen sie leerstehende Wohnwagen und verteidigen sie dann resolut gegen die vermeintlichen Eigentümer.
Für die europäische Menschheit hat das Christentum während nahezu zweitausend Jahren der Idee vom wahren Leben eine verbindliche Kontur verliehen, verbunden mit der Festlegung, die wahre Welt könne nicht von dieser Welt sein. Die mit dem Anbruch der Moderne aufgekommene Annahme, die reale Welt müsse sich zur wahren Welt verändern lassen, hat nach wie vor zahllose Jünger, der alle und jeden überzeugende Erfolg aber hat sich bislang nicht eingestellt. Im Mittelalter und früher Neuzeit war es zu einer engen Verbindung von Religion und Kunst gekommen, eine der wenigen Koalitionen, die beiden Teilen zugute kam. Der Koalitionswechsel hin zur Politik und ihrem Veränderungsbestreben ist der Religion nicht gut bekommen, die Kunst hält an der Idee der metaphysischen Verwandlung mit feinen und, etwa im Fall Modianos, feinsten Mitteln fest.

Quelquefois la vie est monotone et quotidienne, comme aujourd'hui où j'écris ces pages pour trouver des lignes de fuites et m'échapper par les brèches du temps. Wohin soll diese Flucht aus dem normalen Leben führen, in die Vergangenheit? Le passé? Mais non, il ne s'agit pas du passé, mais des épisodes d'une vie rêvée, intemporelle, que j'arrache, pages à page, à la morne vie courante pour lui donner un peu d'ombre et de lumière. Also eher die Ewigkeit als die Vergangenheit, erst im Rückblick allerdings wird sie sichtbar und mit ihr das wahre Leben: Il me semble aujourd'hui que je vivais une autre vie à l'intérieur de ma vie quotidienne. Ou, plus exactement, que cette autre vie était reliée à celle assez terne de tous les jours et lui une phosphorescence et un mystère qu'elle n'avait pas en réalité. Ohne Sorge vor einem Fehlurteil läßt sich sagen, daß Modianos künstlerisches Verlangen allein und ausschließlich darauf zielt, diesem Phosphorglanz und diesem Mysterium eine Realität in der Kunst zu verleihen.

Viele werden die Lösung darin sehen, ein normales Menschenleben zu führen, so wie die Waschbären ihr normales Waschbärenleben führen. Auch die Dichter sind verführbar: Une fille s'avançait sous les feuillages des arbres du boulevard Jourdan. À quoi bon tâcher de résoudre des mystères insolubles et poursuivre des fantômes, quand la vie était là, toute simple, sous le soleil. Irgendwann aber muß man sich dann eingestehen: Nous aurons été pour si peu dans la vie.
Ist es Monica Vitti, die uns dort auf dem Boulevard Jourdan entgegenkommt? Ihr verborgenes wahres Leben ist Gegenstand der Trilogia esistenziale Michelangelo Antonionis. In L'eclisse (den deutschen Verleihtitel zu nennen, verbietet das Schamgefühl) ist das reale und, für jeden erkennbar, zugleich falsche Leben durch die Aktienbörse und Auswüchse der modernen Architektur dargestellt. Der eigentliche Film aber spielt sich in Vittis Gesicht ab, in ihrem Blick, der versucht, in der realen Welt Fuß zu fassen und dann gleich wieder abwärts nach innen gleitet, oft mehrfach hin und her in der Minute. Der noch sehr junge Zuschauer aber möchte immer in die Handlung eingreifen und die Vitti mit einem einzigen Wort darüber aufklären, daß sie bloß vom untauglichen Alain Delon ablassen und zu ihm die Hand müßte ausstrecken, um den rechten Gefährten für das wahre Leben zu haben.