Montag, 13. April 2015

Andere Ufer


Flugkünste

Nabokow betitelt die russischen Fassung seine Autobiographie, die, wie er hervorhebt, keine bloße Übersetzung der ursprünglichen englischen Version Speak, Memory, sondern eine Neuschöpfung ist, mit Другие берега, Andere Ufer. Wenn mit den anderen Ufern die neuen Ufer der Emigration gemeint sein sollten, so hat Nabokow nicht zu ihnen aufbrechen wollen. Die Kindheit ist als Paradies dargestellt, zu dem Freud mit geradezu rüder Entschlossenheit der Zugang versperrt wird, nicht aussperren aber ließ sich die bolschewistische Revolution, die nicht nur als sinnlos und zerstörerisch, sondern, auf der Grundlage des eigenen Erlebens, als grundlos und geradezu als persönlicher Affront wahrgenommen wird. Wenn die Bauern auf dem Gut des Vaters eine besondere Bitte hatten, war sie auch schon so gut wie erfüllt, und in ritueller Dankbarkeit wurde der Vater daraufhin von ihnen mehrfach hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Un jour ils vont le laisser tomber, fürchtet die Gouvernante ohne Grund. Die Kinder, die noch in der ersten Etage beim Frühstück saßen konnten den Vater dann zwei-, dreimal jeweils für eine Sekunde in liegender Position hinter dem Fenster auftauchen sehen, wie er sich feierlich und gleichsam gemütlich auf dem Luftkissen ausstreckte. Sein weißer Anzug flatterte leicht im Wind, sein Gesicht war in stiller Ruhe zum Himmel gewandt, und in jeder Beziehung glich er den Himmelsbewohnern, die in ungezwungenen Posen und in wehenden Gewändern in den Deckengewölben der Kirchen den Sternen gleich schweben, während der Priester weit unten die Totenmesse liest. In einem schönen Schwenk hat der Dichter auf gottlosem Weg die alles umfassende, harmonische Einheit des heiligen Rußlands beschworen, die Knechte, der Herr, darüber das Himmelsgewölbe.
Soweit vorangeschritten in den eigenen Überlegungen war es an der Zeit, an Sebalds Nabokow betreffenden Aufsatz in Campo Santo zu denken. Es zeigt sich, daß auch dieser Aufsatz vordringlich mit der Autobiographie, in ihrer englischen Version, beschäftigt ist. Obwohl mit dem russischen Titel nicht unbedingt vertraut, nähert Sebald sich wiederholt dem Ufermotiv. Unversehens auf die falsche Seite geraten, fristen die Emigranten in Mietszimmern und Pensionen ein quasi exterritoriales, irgendwie illegitimes Nachtleben, gleich ihrem Autor abseits der Berliner Wirklichkeit der zwanziger Jahre - keine Rede von neuen Ufern. Neue Ufer gilt es in einer anderen Sphäre der Wirklichkeit zu erreichen, der Sphäre der Kunst: Stundenlang mußte oft an einer knappen Folge von Worten gearbeitet werden, bis die Erdenschwere überwunden war und der Autor, selber nun gewissermaßen entleibt, über die prekäre Konstruktion seiner Buchstabenbrücke das jenseitige Ufer erreichen konnte, das andere Ufer der innerliterarischen Transzendenz. Die überwundene Erdenschwere, das ist die Wandlung des schweren Alltagssinns der Wörter und Worte in den schwebenden Sinn der Kunst. So ist fast schon eine Notwendigkeit, wenn die Prosa immer wieder auf das Motiv der Levitation zusteuert und damit auf das Bild des fliegenden Vaters, nach Sebalds Verständnis, und wer wollte ihm da widersprechen, das schönste Himmelfahrtsbild, das Nabokow jemals gelang.

Nabokow begegnet uns in allen vier langen Erzählungen der Ausgewanderten, man weiß nicht recht, ob man ihn als weiteren Ausgewanderten oder als eine Art Mascòto wahrnehmen soll. Schließlich erfüllt er die Aufgaben eines Glücksbringer. Bereyter lernt Mme Landau nur kennen, weil sie auf einer Parkbank sitzend Speak, Memory liest, und Aurach kommt dank seiner pünktlich zum Abendbrot hinunter ins Tal. Auch für Adelwarth scheint der Schmetterlingsmann eine Art Trost zu sein. Was verbindet die beiden Dichter? Für eine Flugschau des Vaters fehlten in den bescheidenen Verhältnissen des heimischen Allgäu die Voraussetzungen, Selysses muß sich gleich auf die andere Seite der Himmelfahrtsmetapher begeben, indem er etwa eine Vorliebe für Tiepolo entwickelt, den unübertroffenen Meister der Himmelsbewohner in den Deckengewölben. Real erlebt er nur die Himmelfahrt der Mrs. Ashbury, die allerdings gleichsam nur anruckt und dann im Plafond steckenbleibt.

Keine Kommentare: