Donnerstag, 12. Februar 2015

Wochenbettmelancholie

Konversionen

Von einer besonders unguten Zeit nach dem Abschluß einer größeren Arbeit spricht Selysses, man denkt an etwas Vorübergehendes nach der Art einer Kindsbettdepression oder postkoitalen Tristesse. Als er dann aber nach mehr oder weniger kurzen Aufenthalten in Wien, Venedig, Padua und Verona in einer Art Panik zurück über den Brenner entflieht, hat sich der Eindruck einer Besserung nicht eingestellt. Die zweite Reise, sieben Jahre später verläuft zwar auch nicht störungsfrei, aber doch um einiges glatter. Was ist passiert in der Zwischenzeit?

Prousts Erzähler spürt unter seinen Füßen das unebene Pflaster im Hof der Guermantes, und die Welt ist nicht mehr die gleiche. Wenn zuvor unter ständigen Selbstvorwürfen die Zeit auf geradezu sündhafte Weise nur verloren wurde, ist jetzt alles auf das Einsammeln der wiedergefundenen Zeit ausgerichtet, eine Wende vergleichbar der des Paulus auf dem Weg nach Damaskus oder dem Tolle, lege-Erlebnis des Augustinus im Garten. René Girard betont denn auch die tiefgehende Analogie zur religiösen Konversion, bemängelt aber gleichzeitig diesen Begriff, da er auf eine Umkehr im Sinne der Rückkehr zum Ausgangspunkt und damit auf ein Einmünden in einen Kreislauf hindeute. Geeigneter sei im Grunde der griechische Begriff der Metanoia, der allerdings, übersetzt man ihn mit Meinungsänderung, viel zu schwach ausfalle, geht es doch um die radikale und unumkehrbare Neuausrichtung des bisher eingeschlagenen Wegs. Prousts Wende ist von einmaliger Radikalität und Inbrunst im Bereich der Literatur und läßt in der Tat an die großen religiösen Konversionen denken. Même si Proust n'a jamais recours au vocabulaire du péché, cette notion est implicitement présent. L'exploration du passé ressemble beaucoup au repentir vrai. Girard glaubt ähnliche, wenn auch weniger ins Auge springende Kehren bei Stendhal, Flaubert und Dostojewski feststellen zu können. In den Schwindel.Gefühlen heißt es zu Stendhal, als ihm klar geworden war, daß er sein Glück nicht bei der Armee würde machen können, habe er sich entschlossen, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Damit ist, auf nonchalante Weise, die Konversion aus einem ganz anderen Blickwinkel beschrieben.

Noch während er die Zeit verlor, hatte Proust Skizzen zu Papier gebracht, Literaturkundliches und mit Jean Santeuil eine Art literarischen Vorauskommandos. Sebald und sein von Schwindelgefühlen geplagter Erzähler können auf literaturkundliche Arbeiten und auf das Prosagedicht Nach der Natur verweisen, also auf ein ähnliches Vorleben. Die Konversion, die Wende vom Verlieren zum schreibenden Wiederfinden der Zeit wird bei ihm nicht mit einem Fanfarenstoß, sondern mit äußerster Sprezzatura behandelt. Die Konversion ist versteckt zwischen der ersten und der zweiten Italienreise. Austerlitz ist es später, der Prousts Erleben sichtbar wiederholt, und das Erinnern an seine Kindheit auf dem unebenen Prager Pflaster einleitet. Die Niederschrift überläßt er dem inzwischen geübten Selysses.

Der Unterschied zwischen der ersten und er zweiten Italienreise ist der zwischen Nichtschreiben und Schreiben. Innerhalb der Fiktion, also nicht auf den realen Schaffensprozeß schauend, kann man annehmen, Selysses habe auf der zweiten Reise Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe und den Bericht über die erste Reise schon als Manuskript in der Tasche. Was er Luciana Michelotti in Limone erzählt, läßt den Schluß zu, daß er an dem Bericht über die zweite Reise arbeitet, bevor sie noch abgeschlossen ist. In den Oktoberwochen im Hotel oberhalb von Bruneck wird All'estero wohl im wesentlichen abgeschlossen und noch in der Engelwirtstube, während an den anderen Tischen Handlungsreisende ihr Tagwerk mit dem Ausrechnen von Prozent- und Provisionssätzen zu Ende bringen, in wesentlichen Stücken dann auch Ritorno in patria.
Von Rechts wegen müßte Le temps retrouvé der Recherche du temps perdu vorausgehen, die Ernte kann erst beginnen werden, wenn die Körbe bereitstehen. In dieser Hinsicht sind die Schwindel.Gefühle, die nicht in Combray beginnen, sondern in W. enden, wirklichkeitsnäher. Die verlorene Zeit scheint auf als die ungute Zeit und kommt mit der besonders unguten Zeit vor und während der ersten Italienreise zum Abschluß. Von den geheimnisvollen sieben Jahre zwischen den beiden Reisen erfahren wir nichts. Im weiteren Verlauf sind Erleben und Niederschrift mehr oder weniger synchron. Die Zeit nach der Kindheit in W. erleben wir nur in Sprüngen, die frühe Zeit in Manchester in der Erzählung Aurach, den Wechsel nach Südostengland in der Erzählung Selwyn. Was für Prousts Erzähler der Stand säkularer Sündhaftigkeit war, ist für Selysses eine deprimierende Malaise. Die Konversion ist versteckt, und doch hat sie stattgefunden, der Dichter ist nicht der, der er als Literaturkundiger war, zu Recht vermögen die wenigsten Leser das literaturkundliche und das erzählerische Werk als Einheit verstehen.

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