Donnerstag, 8. Januar 2015

Romanfigur

Casting

Verschiedene Romane Patrick Modianos hat den gleichen Verlauf: Ein Erzähler schon fortgeschrittenen Alters erinnert sich an Geschehnisse aus der Zeit, als er zwanzig war. Er hatte keine Beziehung mehr zu seinen Eltern, oder jedenfalls keine gelungenen, keine besondere Ausbildung und keinen Beruf. Pas d'études. Pas de parents. Pas de milieu social. Oft hat er zum Broterwerb irgendetwas mit Büchern zu tun, liest einigermaßen wahllos und denkt daran, selbst zu schreiben. Er macht endlose Wege durch Paris oder eine andere Metropole, Berlin, London. Meist hat er keine feste Unterkunft, sondern wohnt die längste Zeit in einem Hotel der untersten Preiskategorie. Wiederholt zieht er auch trotz vorhandener Wohnung in ein Hotel, wo er allerdings angesichts des endlosen Wanderns durch die Straßen der Stadt auch nur selten anzutreffen ist. Er trifft ein junges Mädchen, das ihm wichtig wird. Das Mädchen, die junge Frau hat eine undurchsichtige und offenbar nicht ungefährliche Beziehung zu einem älteren Mann zwielichten Charakters, ein Spieler, ein Spekulant, ein Revolutionär, ein Gangster, kein Chorknabe jedenfalls, wie in Accident nocturne ausdrücklich vermerkt wird. Der Erzähler kommt dem Mädchen näher, am Ende aber ist sie, die in ihrer zwielichten Umgebung immer eine eigenartige Unschuld und Reinheit ausstrahlt, verschwunden. Manchmal glaubt er, zwanzig Jahre später, das junge Mädchen in einer Frau mittleren Alters wiederzuerkennen, die ihm in der Metro gegenübersitzt oder in einer Flughafenhalle an ihm vorübergeht. Kann man sich Selysses als Romanfigur innerhalb dieses Handlungsgerüstes vorstellen?
In Manchester erleben wir einen verheißungsvollen Auftakt. Gracie Irlams Hotel Arosa hat die richtige Kategorie, und das Publikum mit the gentlemen's travelling companions ist hinreichend verrufen, Selysses findet aber keinen Zugang zu dieser Halbwelt. Überhaupt ist Manchester nicht die richtige Stadt. Zwar wandert Selysses, wie es sich gehört, end- und ziellos durch die Straßen, aber er trifft kaum einen Menschen. Keine Rede von geeigneten Cafés, hinter deren beleuchteten Fenstern Jacqueline oder Charlotte im Kreis ihrer Freunde zu sehen ist. Das junge Mädchen aber ist de rigeur für das Buch.

Fahrten aufs Land gehören durchaus zum Erzählprogramm, und so sind wir nicht entmutigt, als Selysses und Clara sich in der Gegend von Hingham auf Wohnungssuche begeben. Die beiden sind aber bereits verheiratet, Modianos Augenblick ist verpaßt. Clara allerdings hat einen unverfälschten Modianoaugenblick, als sie eines Nachmittags kurzerhand einfach ein Haus kauft, sorglos in Fragen der Finanzierung.
Je n'avais vu personne depuis plusieurs semaines. Ceux auxquels j'avais téléphoné n'étaient pas rentrés de vacances: Ich habe in den Tagen mit niemanden ein Wort gewechselt und auch Telephonnummern vergeblich ausprobiert. Die Personen, mit denen ich unter Umständen hätte reden können, waren alle auswärts und auch durch das längste Läutenlassen nicht herbeizubringen. - Fast schon eine Übersetzung, soviel Übereinstimmung läßt hoffen, und dabei bleibt es nicht. Wie Modianos Helden hat Selysses alle Stricke zum bisherigen Leben gekappt, der Umgang mit den Büchern ist ähnlich nonchalant, mal blättert er in Grillparzers Reiseerinnerungen, die er irgendwo aufgegriffen hat, mal im Beredten Italiener, von dem man nicht weiß, wie er in seine Tasche geraten ist, offenbar ist er auch selbst literarisch tätig. Das junge Mädchen mit der bunten Jacke im Zug nach Mailand erfüllt alle Voraussetzungen für die weibliche Hauptrolle, daß er sie am Bahnhof ziehen läßt, entspricht der Regel, nun aber müßte er alles daransetzen, sie in der großen Stadt wiederzufinden. Das unterbleibt. Ohnehin sieht man einen vierzigjähriger Schauspieler in der Rolle eines Zwanzigjährigen, eine Besetzungsmodalität, die in Hollywood durchaus vorkommt, man denke an den jungen Rechtsanwalt James Steward in Liberty Valence, der den größten Teil des Films bestreiten muß, bevor er dann endlich wieder, wie bereits in der Eingangsszene, der schon erheblich in die Jahre gekommene Senator Ransom Stoddard sein darf. Einen guten Eindruck hinterläßt das nicht immer.
Vielleicht eignet sich der noch junge Austerlitz, in mancher Beziehung Selysses Doppelgänger, besser. Das nächtliche London durchstreift er allein, in Paris aber lernt er Marie kennen im Rahmen einer Szene, die nahezu ungeschnitten übernommen werden kann. An diesem Tag ist es gewesen, daß Marie, die wie er in der Dokumentensammlung arbeitete, ihm einen Kassiber zuschob, mit dem sie ihn einlud auf einen Kaffee. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab er sich keine Rechenschaft über die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise, deutete vielmehr nur mit wortlosem Kopfnicken sein Einverständnis an und ging mit ihr durch das Stiegenhaus und über den inneren Hof auf die Bibliothek hinaus, durch einige der an diesem frischen Morgen von einer angenehmen Luft durchwehten Gassen bis hinüber zum Palais Royal, wo die beiden dann lange unter den Arkaden gesessen sind. Es folgen gemeinsame Spaziergänge durch Paris, ein Ausflug nach Marienbad, alles wie vorgesehen. Wie es die Regeln erfordern, verliert er Marie und begibt sich, weiterhin regelkonform, viele Jahre später auf die Suche nach ihr.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Die Teilnahme am Castingverfahren wäre nicht aussichtslos, die Idealbesetzung für ein neues Buch des Nobelpreisträgers aber ist Selysses nicht.

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