Dienstag, 13. Januar 2015

Engel auf Erden

Restverzauberung

Im Alltag können wir jederzeit auf Engel treffen. Langsam wandelten die Fluggäste durch die Hallen oder schwebten, still auf den Rolltreppen stehend, ihren verschiedenen Bestimmungsorten in den Höhen, wohl die Erretteten, und Untergründen, wohl die Verdammten, entgegen. Ab und zu wurde von den offenbar körperlosen, engelsgleich ihre Botschaften intonierenden Stimmen der Ansagerinnen jemand aufgerufen. Über kurz oder lang würde die Reihe an jedem der hier Versammelten sein. Auf einmal drang denn auch von weit her an das Ohr des für eine Zeitlang eingenickten Reisenden sein Name von sehr weit her an sein Ohr und gleich darauf die Mahnung: immediate boarding at Gate C4 please. Offenbar wird er noch einmal in das Purgatorium des Daseins entlassen. Die verborgenen Engel nehmen eine Aufgabe wahr nicht unähnlich derjenigen, der sich Dante verdingt hatte, als er die Divina Commedia niederschrieb.

Die Flughafenengel sorgen für eine gleichzeitig beängstigende und behütende Weltenordnung, die am Rande auch Selysses zugute kommt, das Engelspaar Katy und Lizzie, so hießen die Wesen, die ihn umschwebten, war ganz allein für ihn entsandt. Droben am Himmelsgewölbe waren die Sterne, winzige Goldpunkte, in die Öde gestreut. An sein Ohr drangen durch die dröhnende Leere die Stimmen der beiden Schwestern, die ihm ab und zu die Lippen netzten mit einem kleinen Schwamm. Selten nur war er so glücklich gewesen wie unter ihrer Obhut in dieser Nacht. Von den Alltäglichkeiten, über die sie miteinander redeten, verstand er kein Wort, nur ein vollendetes Klingen und Flöten, halb Engelsmusik, halb Sirenenmusik. Von einer Zauberinsel auch hört er, Malta genannt, wo Verkehr und Gegenverkehr die gleiche Spur benutzen, die im Schatten liegende nämlich, und wo nach dem unergründlichen Ratschluß des Herrn die Bewohner am Abend gleichwohl unversehrt ihre Wohnungen erreichen.

Oft, vielleicht sogar in der Mehrzahl, bleiben die Engel zunächst unerkannt, vor dem geübten Blick aber können sie sich nicht lange verbergen. Selysses gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Das Mädchen war in Brescia zugestiegen, die Franziskanerin hatte in Desenzano bereits im Zug gesessen. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. So ging es die ganze Zeit fort. Der Habit der Franziskanerin mag ein unzuverlässiges Indiz sein, die vollendete Schönheit aber, wie könnte man sie einem menschlichen Wesen zusprechen, verrät sie.

Wie verhalten sich die Engel des Alltags zu den wahren Engeln aus der Zeit, als die Welt noch verzaubert war, Giottos Engeln etwa, deren lautlose Klage seit nahezu siebenhundert Jahren über unserem unendlichen Unglück erhoben wird. Sie stehen ihnen sicher näher als etwa den sogenannten gelben Engeln eines inzwischen in Verruf gekommenen Automobilclubs. Gelbe und andere eingefärbte Engel vollenden die Entzauberung der Welt, während die Engel des Alltags, wie sie der Dichter kennt, eine Restverzauberung bewahren oder wiederbeleben. Die Engel des Alltags erscheinen immer unter betont trivialen Umständen, aber kein triviales Wort oder eins, das in ihrem Munde trivial klingen würde, ist zu hören. Ihre Stimme ist Gesang oder Schweigen. Die Engel des Alltags sind immer weiblich, Weiblichkeit als Restverzauberung, eine Bastion, die im Interesse gleicher Berechtigungen für alle längst hätte geschliffen werden müssen, die der Dichter aber unverdrossen verteidigt hat, auf den Lippen ein Lächeln halb Spott über sich selbst und die Welt und halb Glück des Augenblicks.

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