Dienstag, 16. Dezember 2014

Perroquet, chien, merveilles

célestes, questionnaire

Patrick Modiano, Jahrgang 1945, ein Jahr jünger als Sebald, ist, ganz abgesehen vom Nobelpreis, unter den bedeutenden Autoren des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts zweifellos der größte: 1 Meter 98, sechs Zentimeter mehr als Julio Cortázar, der keineswegs kleinwüchsigen Sebald ist abgeschlagen. In Modianos besonders schönem Buch Accident nocturne trifft der Erzähler auf der Suche nach seiner Verkehrsunfallgefährtin und ihrem wassergrünen Fiat in der Closerie de Passy auf den Papagei Pépère und bringt ihm mit dem Einverständnis der Wirtin den Satz Fiat couleur vert d'eau bei. Dreißig Jahre später, die Closerie de Passy ist längst geschlossen, stellt er sich vor, der Papagei, Vertreter einer langlebigen Art, würde in einem anderen Café immer noch diese Worte hersagen, ohne daß irgendjemand ihm zuhören oder ihn verstehen würde. In n'y a plus que les perroquets qui restent fidèles au passé. Eines Nachts, nur wenige Seiten später, folgt ihm ein Hund von der Metrostation Alma bis zur Esplanade du Trocadéro. Der Hund erinnert ihn an einen anderen, der Jahre zuvor Opfer eines Verkehrsunfalls geworden war, und nun hofft er, das Tier würde ihn, gleichgesinnt mit dem Papagei, zum wassergrünen Fiat und seiner Besitzerin führen. Wenn der Erzähler ursprünglich auf seinen nächtlichen Gängen angesichts seines heruntergekommenen Zustands befürchtet hatte, die Polizei könnte ihn fest nehmen, so ist er inzwischen, nachdem er die Lektüre von Kriminalromanen zugunsten der eines Werkes mit dem Titel Merveilles célestes aufgegeben hatte, ausgesprochen gelassen. La lecture des Merveilles célestes m'avait vraiment remonté le moral. Désormais, je considérais les choses de très haut.
Zu allen drei Punkten: Papagei, Hund und Himmelswunder erinnert der Sebaldleser sogleich eine Parallelstelle im Werk des Dichters. In Prag trifft Austerlitz bei seiner Spurensuche, bevor er noch einem Menschen begegnet, im Traum auf einen Papagei. Der gesuchte Volksstamm der Azteken sei leider vor vielen Jahren schon ausgestorben, heißt es, höchstens daß hie und da noch ein alter Papagei überlebe, der noch etliche Worte ihrer Sprache versteht. Nicht nur ein einzelner, unvollständiger Satz, eine ganzes Idiom ist, wenn auch nur fragmentär, von den Papageien bewahrt, Der Einblick in das Leben der Papageien wird dann bei der Schilderung der Kakadukolonie in Andromeda Lodge noch vertieft. In Verona schließ sich Selysses ein herrenloser Hund an, wie alle herrenlosen Hunde schien er schräg zu der Richtung zu laufen, in der er sich fortbewegte. Blieb ich stehen, so hielt auch er ein und schaute versonnen auf das fließende Wasser der Etsch. Ging ich weiter, so machte auch er sich wieder auf den Weg. Als ich aber am Castelvecchio den Corso Cavour überquerte, blieb er an der Bordsteinkante zurück, und ich wäre, weil ich mitten auf dem Corso mich umwandte nach ihm, um ein Haar überfahren worden - auch hier ein deutlicher Bezug des Hundes zu den Gefahren des Straßenverkehrs. Der venezianische Astronom Malachio sieht alles aus der größten Entfernung, nicht nur die Sterne: aus der größten Entfernung und de très haut, eine wenn nicht wort- so doch sinngetreue Übersetzung.
Eine direkte Beeinflussung in der einen oder anderen Richtung ist auszuschließen, kann eine Gemeinsamkeit des gedanklichen Hintergrunds oder des gestalterischen Ansatzes angenommen werden? Modianos Erzähler wird im selben Erzählabschnitt ein eigenartiger Questionnaire ausgehändigt, den er, wenn vielleicht auch nur in Gedanken, beantwortet. Welche Familienstruktur haben Sie erfahren? Aucune. Haben sie ein starkes Bild von Ihrem Vater und Ihrer Mutter? Nebuleuse. Halten Sie sich für einen guten Sohn? Je n'ai jamais été un fils. Ging es Ihnen in Ihrer Ausbildung darum, die Achtung Ihrer Eltern zu gewinnen und sich ihrem sozialen Milieu anzupassen? Pas d'études. Pas de parents. Pas de milieu social. Liegt Ihnen mehr an einer Revolution oder an der Betrachtung einer schönen Landschaft? Contempler un beau paysage. Was ziehen sie vor, die Tiefe der Qual oder die Leichtigkeit des Glücks? La légèrté du bonheur. Wollen Sie das Leben ändern oder eine verlorene Harmonie wiederfinden? Retrouver une harmonie perdue.
Identifiziert man für einen Augenblick Modiano mit seinem Erzähler, dessen Alter wir kennen, so wurde diese stille Befragung 1965 durchgeführt. Der Fragebogen spiegelt den Geist der Dekade. Die Frage nach den Eltern ist im Sinne der damaligen politischen Korrektheit angemessen beantwortet, nicht aber die Frage nach dem Milieu, der Klassenzugehörigkeit, wie es hieß. Schwer wiegen die Verunglimpfung der Revolution und der fehlende Änderungswille. Selysses verschweigt seine Eltern soweit wie möglich, die Fragen zur Herkunft könnte er nicht in der gleichen Weise beantworten, wie Modianos Erzähler, aber es wären seine Wunschantworten. Die Bilder Pisanellos haben in ihm vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen, also würde auch er die Landschaft der Revolution vorziehen. Auf Änderung würde er ebenfalls verzichten, und wenn Modianos Erzähler einhält: Ces deux mots me faisaient rêver, mais en quoi pouvait bien consister une harmonie perdue? - so weiß Sebald die Antwort: Das Tröstliche der Kunst besteht darin, daß man im Kunstwerk, zumindest wenn es gelungen ist, für ein flüchtiges, sich selbst regulierendes Gleichgewicht sorgen kann. - Im Fazit gibt der Fragebogen ein zu beachtliches Maß an Übereinstimmung in der Grundeinstellung zu erkennen.
Einige Bücher Modianos wirken schon fast wie Versuchsanordnungen der Erinnerung im wissenschaftlichen Sinn. Jeder Autor, der Erinnerung sucht, wird naturgemäß mit Proust verglichen. Während aber bei Proust aus dem Duft einer Madeleine oder dem unebenen Pflaster unter den Füßen komplette und ungeheuer detailreiche Welten aufsteigen, bleibt bei Modiano, sieht man in ihm einen Entomologen, das Schmetterlingsnetz seltsam leer. Für Austerlitz beginnt die Erinnerung an seine Prager Kindheit mit einer offenen Reverenz gegenüber Proust und dem Gefühl unebener Pflastersteine auf dem Weg zu der alten Wohnung, seine Amnesie beschränkt sich aber auf die frühe Kindheit, über die Jugend in Bala, Gogledd Cymru, weiß er so gut Bescheid, als dauerte sie noch an. Papagei, Hund und Himmelswunder stehen vor einem Hintergrund von insgesamt mehr Unähnlichkeit als Ähnlichkeit und wirken wie Irrlichter. Sebald würde von Koinzidenzen sprechen, Modiano, mit diesen Überlegungen konfrontiert, würde urteilen: C'est bizarre.

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