Dienstag, 2. Dezember 2014

Mallord Turner

Indirektes Licht

Wer die Bilder Turners liebt, wird auch die Bücher Modianos lieben, zunehmend nurmehr Atmosphäre und Dunst, kaum Konturen, wenn jemand in der Malerei, etwa was Venedig anbelangt, auf Gentile Bellini setzt, sieht das anders aus. Sebald äußert sich im Gespräch zu Turner im Zusammenhang mit dem Thema der Erinnerung: Daß die Erinnerung etwas extrem Fragmentarisches hat, ist ja auch klar: Wir erinnern uns an bestimmte Dinge, an Winzigkeiten. Es ist extrem fragmentarisch, was man aus bestimmten Vergangenheiten beibehalten kann, und das taucht tatsächlich aus diesem Turnerschen Nebel auf. Dieser Himmel ist zum größten Teil verhangen: Dunst und Nebel. Man sieht nicht ganz genau, was es ist. Das Päckchen Vergangenheit, was wir haben, ist sehr mager, es ist nicht viel drin. Es ist sporadisch, sehr perforiert, sehr unzuverlässig. Man weiß nicht genau, was es ist: War es wirklich so, oder stellt man es sich vor? Alles sehr unklar. - Wüßte man es nicht besser, könnte man meinen, Sebald spräche nicht in eigener Sache, sondern über Modiano, für dessen Bücher die Erinnerung in ihrem sporadischen, perforierten, unzuverlässigen Zustand eigentlich das einzige Thema ist. Keine Erinnerungswelten lösen sich aus einer Madeleine, oft eine Jahrzehnte zurückliegende, seltsam keusche Liebesgeschichte, so als habe sie aus kaum mehr als langen Wanderungen durch Paris bestanden, rive gauche er rive droite, auf der Seite der Frau oft ein geheimes, unerlaubtes Leben. Für Sebald ist die Erinnerung nur ein wichtiges Motiv unter anderen. In All'estero scheint der Erzähler über lange Strecken sich aus allen sein persönliches Leben betreffenden Erinnerung gelöst zu haben.
Einen Auftritt hat Turner in Austerlitz, Sebalds vordringlichem Erinnerungsbuch, aber nicht unbedingt in Verbindung damit: Gerade als sich der Trauerzug auf den Friedhof von Cutiau zubewegte, brach die Sonne durch die Dunstschleier über dem Mawddach, und eine Brise strich das Ufer entlang. Die wenigen dunklen Figuren, die Gruppe der Pappelbäume, die Lichtflut über dem Wasser, das Massiv des Cader Idris auf der anderen Seite, das waren die Elemente einer Abschiedsszene, die ich sonderbarerweise vor ein paar Wochen wiederentdeckte in einer der flüchtigen Aquarellskizzen, in denen Turner oft notierte, was ihm vor Augen kam, sei es vor Ort oder später erst in der Rückschau in die Vergangenheit. Das nahezu substanzlose Bild, das die Bezeichnung Funeral at Lausanne trägt, datiert aus dem Jahr 1841 und also aus einer Zeit, in der Turner kaum noch reisen konnte, mehr und mehr umging mit dem Gedanken an seine Sterblichkeit und vielleicht darum, wenn irgend etwas, wie dieser kleine Lausanner Leichenzug, aus dem Gedächtnis auftauchte, geschwind mit einigen Pinselstrichen die sogleich wieder zerfließenden Visionen festzuhalten versuchte. Im Verlauf meiner weiteren Beschäftigung mit den Skizzenbüchern und dem Leben Turners bin ich dann auf die an sich völlig bedeutungslose, mich aber nichtsdestoweniger eigenartig berührende Tatsache gestoßen, daß er, Turner, im Jahr 1798, auf einer Landfahrt durch Wales, auch an der Mündung des Mawddach gewesen ist und daß er zu jener Zeit genauso alt war wie ich bei dem Begräbnis von Cutiau.
Austerlitz' Erinnerungen an Andromeda Lodge stellen sich nicht als schmales Päckchen dar, verschiedentlich blühen sie auf in einer Pracht, wie es in der unmittelbaren Wahrnehmung nicht möglich ist, näher bei Proust als bei Modiano, Proust, für den die Erinnerung immer reicher ist als das gegenwärtige Erleben, das ohnehin nicht Literatur werden kann, schon eine Tagebuchnotiz ist ein Rückblick. Man denke nur an die weißgefiederten Kakadus, von Andromeda Lodge, wenn sie nicht flogen oder kletterten, hüpften sie über den Boden dahin, immer geschäftig und, so hatte man den Eindruck, immer auf irgend etwas bedacht. Man hörte sie seufzen, niesen, lachen und gähnen. Auch wie sie sich in andauernd wechselnden Gruppen zusammenrotteten und dann wieder paarweise beieinander saßen, als kennten sie nichts als die Eintracht und seien auf ewig unzertrennlich, war ein Spiegel der menschlichen Sozietät. Auf einer Lichtung hatten sie sogar ihren eigenen, wenn auch nicht von ihnen selber verwalteten Friedhof mit einer langen Reihe von Gräbern. Oder die lange Reihe der Falter, Porzellan- und Pergamentspinner, spanische Flaggen, schwarze Ordensbänder, Messing- und Ypsiloneulen und Dutzende mehr, kein überzeugendes Beispiel perforierter Erinnerung.
Wenn der Leser anläßlich des Begräbnisses von Turner liest, kommt es ihm vor, als habe er Turner während des Aufenthalts in Andromeda Logde die ganze Zeit über im Sinn gehabt, nicht erst jetzt, mit den wenigen dunklen Figuren, der Gruppe der Pappelbäume und der Lichtflut über dem Wasser, sondern gleich bei der Ankunft schon, als man denken konnte, jenseits des Flusses, unter den atmosphärischen Bedingungen aber eine Ewigkeit entfernt das Dörfchen Arthog liegen sah, und später auch, als Adela als aus der Tiefe des Gartens kommt, in grünlichbraunen Wollsachen, an deren hauchfein gekräuseltem Rand Millionen winziger Wassertropfen eine Art von silbrigem Glanz um sie bildeten, als habe sich das Licht frei gemacht von den Gegenständen und sei das einzige wahre Wesen der Welt. Wie ein in der Begräbnisszene verstecktes Licht strahlt Mallord Turner aus auf die Umgebung. Das Doppelbegräbnis selbst ist ohne große Bedeutung, der Tod des Onkels Evelyn und des Großonkels Alphonso kaum einen Tag nacheinander eine bloße Koinzidenz, die beiden hatten im Leben nicht viel gemeinsam und haben es auch nicht im Tod. Die sodann angesprochene Datumskoinzidenz wird von Austerlitz selbst als völlig bedeutungslos, wenn auch ihn eigenartig berührend eingeschätzt. Die wahre Bedeutung der Begräbnisszene besteht also darin, in ihrer relativen Bedeutungslosigkeit einen Platz für Turner zu reservieren, von dem aus er weithin leuchtet.

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