Sonntag, 23. November 2014

Exnovation

C'est bizarre

Man muß wohl dankbar sein, daß die Begriffswahl auf Innovation gefallen ist, manche hätten sich Exnovation gewünscht. Wenn Innovation eine Neuerung innerhalb eines Bestehenden und vom Bestehenden ausgehend ist, wäre Exnovation eine Neuerung außerhalb des Bestehenden, ein kompletter Neuanfang auf der Tabula rasa. Da aber das Neue, kaum installiert, schon das Alte ist, müßte, um das Neue neu zu erhalten, auf die erste Exnovation, wenn sie denn überhaupt möglich wäre, alsbald die zweite folgen und so fort. Die baldige Auszehrung und finale Erschöpfung der Welt wäre abzusehen.
Alle wissen um den historischen, die Moderne auszeichnenden Wechsel des Bezugspunktes vom Alten und Vergangenen zum Neuen und Zukünftigen, verblüffen kann immer noch die Schnelligkeit und Radikalität der Wende. Die Französische Revolution ging wohl von einer einmaligen Exnovation aus, die Vernunft tritt an die Stelle der Unmündigkeit, und alles fällt ins Lot. Das war dann ersichtlich nicht der Fall. Hegel streckte die Angelegenheit ein wenig in der Zeit, kam aber nach einigem dialektischen Hin und Her auch bei seinem Endziel an, das keins war und überrollt wurde. Marx streckte noch ein wenig mehr und modifizierte das Endziel, das sich inzwischen seinerseits aber auch verflüchtigt hat. Der Späthegelianer Fukuyama hat daraufhin die marktliberaler Demokratie als das erreichte Endziel der Geschichte ausgerufen, und seither sind die Europäer und ihre Verbündeten mit strengem Nachdruck gehalten, daran zu glauben. Vieles sei zu bemängeln und jeder ist dazu aufgerufen, aber insgesamt sei das Arrangement, wie schon Leibniz und Voltaire ahnten, das denkbar beste. Ob die rastlosen Reformen der Aufrechterhaltung der Balance dienen oder auf ein stabiles Endziel zusteuern, ist unklar. Die fortwährend ergehenden Hinweise an den dahinziehenden Troß, die eine oder andere Weltgegend sei in der einen oder anderen Sache schon weiter, verlangen allerdings nach den Regeln der Logik eine wenn auch verborgene so doch feststehende Richtung und lassen glauben, daß die Eingeweihten das Endziel klar vor Augen haben. Häretiker sehen Lemminge, die auf den Abgrund zumarschieren.
Die Ausrichtung auf das Neue folgt dem Muster der wissenschaftsbasierten Technologieentwicklung, die Infizierung der Politik ist verständlich, die Kunst hätte, so möchte man meinen, immun sein sollen. Erfaßt von Panik beim Gedanken zurückzubleiben, hat sie sich aber zur Avantgarde der Bewegung erklärt, und als Kunst konnte lange Zeit nur noch gelten, was neu war, und alles Neue war Kunst, wenn es das denn behauptete. Im Reich ungezählter Neuheiten ist aber schon seit langem nichts mehr neu. Die Vergabe des Nobelpreises an Modiano, von dem man sagt, er würde unablässig das gleiche Buch schreiben - toujours quelqu'un à la recherche de ces êtres dont les traces se perdent: das Austerlitzmotiv, wenn man so will -, der sich also nicht vom Fleck rührt, könnte als Zeichen der Besinnung gewertet werden. C'est bizarre, soll der Laureat die Preisverleihung kommentiert haben.

Proust zeichnet in Illiers (Jean Santeuil) und Combray (Recherche) eine Welt, die weder alt noch neu, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern nur eine Ewigkeit der Gegenwart: Il y a, dans le temps qui suit un repas copieux, une sorte de temps d'arrêt, plein de douceur, de l'intelligence et de l'énergie, où rester sans rien faire nous donne le sentiment de la plénitude de la vie: warum sollte auch nur diese Siesta jemals enden, und dann ist sie doch verschwunden, die endlose Gegenwart. Der Blick der Suche nach der verlorenen Zeit ist notgedrungen rückgewandt, an Neuem ist dem Dichter nicht gelegen, wer aber wollte die überragende und anhaltende Neuheit seines Werkes bestreiten. Joyce, um einen anderen der Großen zu nennen, war, kann man vermuten, auf Neues aus, mit dem Blick zurück auf Odysseus bleibt er verständlich. Finnegans Wake läßt sich als ein Versuch der Exnovation werten, da ist er dann mehr oder weniger allein.
Wie Proust scheint auch Sebald jede Neuerungsabsicht fremd, ja es scheint, als wolle er jeden Gedanken an Neuheit ersticken. Seine Satzformen sind sogleich denjenigen Stifters zugeordnet worden, und tatsächlich bekennt er sich ausdrücklich zu den Erzählern des süddeutschen Sprachraums im neunzehnten Jahrhunderts, vor allem zu Keller. Das Lexikon der deutschen Sprache hat der Dichter ab einem bestimmten Zeitpunkt für Neuaufnahmen geschlossen. Die Augen sind rückwärts gerichtet wie bei Benjamins Engel, keine Blick fällt auf Fukuyamas Territorium. Nachdem man in Marx' Reich den Künstlern und Literaten ein Übermaß an Zukunftsfreude abverlangt hatte, mußte man sich in der sogenannten freien Welt, wenn auch ungern, daran gewöhnen, einigen von ihnen ein größeres Maß an Pessimismus zuzugestehen als dem Rest der Bürgerschaft.

Originalität und Kreativität gelten als unerläßliche Voraussetzung und Merkmal einer dem Neuen verpflichteten Literatur, und auch da scheint es nicht gut auszusehen. Den Auftakt zum Prosawerk spielt Sebald nicht selbst, sondern überläßt ihn Stendhal. Der erste Auftritt seines Icherzählers endet im Fiasko einer panikartigen Flucht aus Italien. Das Fazit der Reise wird Thomas Browne überlassen, die Übersetzung ist möglicherweise eine originäre Leistung des Dichters: Weit länger währt die Nacht der Zeit als deren Tagesspanne, und es weiß keiner, wann das Äquinoktium gewesen ist. Eine weitere Italienreise bereitet den Auftritt Kafkas vor, der dann auch bald als Protagonist die Bühne beherrscht. Als Kafka samt dem Jäger Gracchus abtritt fürs erste, begibt der Icherzähler sich auf den Ritorno in Patria, bis nach Innsbruck überläßt er die stilistische Reiseleitung Thomas Bernhard, im Allgäu ist Kafka erneut Leiter der Forstbehörde und Aufseher im Jagdrevier. In den Ringen des Saturn führen Thomas Browne, Conrad, Swinburne, Hamburger, FitzGerald, Chateaubriand und die chinesischen Kaiserin das Wort, und als Austerlitz durch das nächtliche und schlafende London wandert, läßt auch er Kafka sprechen, statt aufwendig nach eigenen Worten zu suchen.
Abtretung an andere, Imitation, wohin man schaut, Plagiat, wenn man so will. Wer aber glaubt, nicht zu imitieren, macht sich etwas vor, und andererseits: der Künstler muß die Imitation weder fürchten noch meiden, er wird sie am Ende ohnehin verfehlen. So wie Gleichheit, überläßt man sie sich selbst, zuverlässig Ungleichheit generiert, so bringt das Vertraute, wenn man sich denn mit allem Ernst auf es einläßt, zuverlässig Neues hervor. Die Strategien des Dichters zur Vermeidung der Neuheit, wenn es sie denn gäbe, verfangen nicht und provozieren das Gegenteil: das Gefühl des Neuen, nie Gehörten beim Lesen der vier Bücher Sebalds ist überwältigend. Unter Schwindelgefühlen bricht aus der Betrachtung des Vertrauten das Neue hervor, eine Exnovation, wenn wir die Bedeutung des ohnehin nicht existenten und insofern freien Begriffs entsprechend verschieben. Le véritable changement ne peut prendre racine qu'à une condition: il faut qu'il jaillisse de cette cohérence que seule la tradition nous offre. La tradition ne peut être défiée avec succès que de l'intérieur. L'innovation véritable suppose nécessairement un respect minimum pour le passé et une connaissance de ses œuvres, c'est-à-dire la mimésis.

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