Sonntag, 23. November 2014

Exnovation

C'est bizarre

Man muß wohl dankbar sein, daß die Begriffswahl auf Innovation gefallen ist, manche hätten sich Exnovation gewünscht. Wenn Innovation eine Neuerung innerhalb eines Bestehenden und vom Bestehenden ausgehend ist, wäre Exnovation eine Neuerung außerhalb des Bestehenden, ein kompletter Neuanfang auf der Tabula rasa. Da aber das Neue, kaum installiert, schon das Alte ist, müßte, um das Neue neu zu erhalten, auf die erste Exnovation, wenn sie denn überhaupt möglich wäre, alsbald die zweite folgen und so fort. Die baldige Auszehrung und finale Erschöpfung der Welt wäre abzusehen.
Alle wissen um den historischen, die Moderne auszeichnenden Wechsel des Bezugspunktes vom Alten und Vergangenen zum Neuen und Zukünftigen, verblüffen kann immer noch die Schnelligkeit und Radikalität der Wende. Die Französische Revolution ging wohl von einer einmaligen Exnovation aus, die Vernunft tritt an die Stelle der Unmündigkeit, und alles fällt ins Lot. Das war dann ersichtlich nicht der Fall. Hegel streckte die Angelegenheit ein wenig in der Zeit, kam aber nach einigem dialektischen Hin und Her auch bei seinem Endziel an, das keins war und überrollt wurde. Marx streckte noch ein wenig mehr und modifizierte das Endziel, das sich inzwischen seinerseits aber auch verflüchtigt hat. Der Späthegelianer Fukuyama hat daraufhin die marktliberaler Demokratie als das erreichte Endziel der Geschichte ausgerufen, und seither sind die Europäer und ihre Verbündeten mit strengem Nachdruck gehalten, daran zu glauben. Vieles sei zu bemängeln und jeder ist dazu aufgerufen, aber insgesamt sei das Arrangement, wie schon Leibniz und Voltaire ahnten, das denkbar beste. Ob die rastlosen Reformen der Aufrechterhaltung der Balance dienen oder auf ein stabiles Endziel zusteuern, ist unklar. Die fortwährend ergehenden Hinweise an den dahinziehenden Troß, die eine oder andere Weltgegend sei in der einen oder anderen Sache schon weiter, verlangen allerdings nach den Regeln der Logik eine wenn auch verborgene so doch feststehende Richtung und lassen glauben, daß die Eingeweihten das Endziel klar vor Augen haben. Häretiker sehen Lemminge, die auf den Abgrund zumarschieren.
Die Ausrichtung auf das Neue folgt dem Muster der wissenschaftsbasierten Technologieentwicklung, die Infizierung der Politik ist verständlich, die Kunst hätte, so möchte man meinen, immun sein sollen. Erfaßt von Panik beim Gedanken zurückzubleiben, hat sie sich aber zur Avantgarde der Bewegung erklärt, und als Kunst konnte lange Zeit nur noch gelten, was neu war, und alles Neue war Kunst, wenn es das denn behauptete. Im Reich ungezählter Neuheiten ist aber schon seit langem nichts mehr neu. Die Vergabe des Nobelpreises an Modiano, von dem man sagt, er würde unablässig das gleiche Buch schreiben - toujours quelqu'un à la recherche de ces êtres dont les traces se perdent: das Austerlitzmotiv, wenn man so will -, der sich also nicht vom Fleck rührt, könnte als Zeichen der Besinnung gewertet werden. C'est bizarre, soll der Laureat die Preisverleihung kommentiert haben.

Proust zeichnet in Illiers (Jean Santeuil) und Combray (Recherche) eine Welt, die weder alt noch neu, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, sondern nur eine Ewigkeit der Gegenwart: Il y a, dans le temps qui suit un repas copieux, une sorte de temps d'arrêt, plein de douceur, de l'intelligence et de l'énergie, où rester sans rien faire nous donne le sentiment de la plénitude de la vie: warum sollte auch nur diese Siesta jemals enden, und dann ist sie doch verschwunden, die endlose Gegenwart. Der Blick der Suche nach der verlorenen Zeit ist notgedrungen rückgewandt, an Neuem ist dem Dichter nicht gelegen, wer aber wollte die überragende und anhaltende Neuheit seines Werkes bestreiten. Joyce, um einen anderen der Großen zu nennen, war, kann man vermuten, auf Neues aus, mit dem Blick zurück auf Odysseus bleibt er verständlich. Finnegans Wake läßt sich als ein Versuch der Exnovation werten, da ist er dann mehr oder weniger allein.
Wie Proust scheint auch Sebald jede Neuerungsabsicht fremd, ja es scheint, als wolle er jeden Gedanken an Neuheit ersticken. Seine Satzformen sind sogleich denjenigen Stifters zugeordnet worden, und tatsächlich bekennt er sich ausdrücklich zu den Erzählern des süddeutschen Sprachraums im neunzehnten Jahrhunderts, vor allem zu Keller. Das Lexikon der deutschen Sprache hat der Dichter ab einem bestimmten Zeitpunkt für Neuaufnahmen geschlossen. Die Augen sind rückwärts gerichtet wie bei Benjamins Engel, keine Blick fällt auf Fukuyamas Territorium. Nachdem man in Marx' Reich den Künstlern und Literaten ein Übermaß an Zukunftsfreude abverlangt hatte, mußte man sich in der sogenannten freien Welt, wenn auch ungern, daran gewöhnen, einigen von ihnen ein größeres Maß an Pessimismus zuzugestehen als dem Rest der Bürgerschaft.

Originalität und Kreativität gelten als unerläßliche Voraussetzung und Merkmal einer dem Neuen verpflichteten Literatur, und auch da scheint es nicht gut auszusehen. Den Auftakt zum Prosawerk spielt Sebald nicht selbst, sondern überläßt ihn Stendhal. Der erste Auftritt seines Icherzählers endet im Fiasko einer panikartigen Flucht aus Italien. Das Fazit der Reise wird Thomas Browne überlassen, die Übersetzung ist möglicherweise eine originäre Leistung des Dichters: Weit länger währt die Nacht der Zeit als deren Tagesspanne, und es weiß keiner, wann das Äquinoktium gewesen ist. Eine weitere Italienreise bereitet den Auftritt Kafkas vor, der dann auch bald als Protagonist die Bühne beherrscht. Als Kafka samt dem Jäger Gracchus abtritt fürs erste, begibt der Icherzähler sich auf den Ritorno in Patria, bis nach Innsbruck überläßt er die stilistische Reiseleitung Thomas Bernhard, im Allgäu ist Kafka erneut Leiter der Forstbehörde und Aufseher im Jagdrevier. In den Ringen des Saturn führen Thomas Browne, Conrad, Swinburne, Hamburger, FitzGerald, Chateaubriand und die chinesischen Kaiserin das Wort, und als Austerlitz durch das nächtliche und schlafende London wandert, läßt auch er Kafka sprechen, statt aufwendig nach eigenen Worten zu suchen.
Abtretung an andere, Imitation, wohin man schaut, Plagiat, wenn man so will. Wer aber glaubt, nicht zu imitieren, macht sich etwas vor, und andererseits: der Künstler muß die Imitation weder fürchten noch meiden, er wird sie am Ende ohnehin verfehlen. So wie Gleichheit, überläßt man sie sich selbst, zuverlässig Ungleichheit generiert, so bringt das Vertraute, wenn man sich denn mit allem Ernst auf es einläßt, zuverlässig Neues hervor. Die Strategien des Dichters zur Vermeidung der Neuheit, wenn es sie denn gäbe, verfangen nicht und provozieren das Gegenteil: das Gefühl des Neuen, nie Gehörten beim Lesen der vier Bücher Sebalds ist überwältigend. Unter Schwindelgefühlen bricht aus der Betrachtung des Vertrauten das Neue hervor, eine Exnovation, wenn wir die Bedeutung des ohnehin nicht existenten und insofern freien Begriffs entsprechend verschieben. Le véritable changement ne peut prendre racine qu'à une condition: il faut qu'il jaillisse de cette cohérence que seule la tradition nous offre. La tradition ne peut être défiée avec succès que de l'intérieur. L'innovation véritable suppose nécessairement un respect minimum pour le passé et une connaissance de ses œuvres, c'est-à-dire la mimésis.

Freitag, 14. November 2014

Palamedes

Coyoten

In loser Weise bezugnehmend auf die Reisetätigkeit des Odysseus wurde Sebalds namenloser Erzähler Selysses genannt, größere Ähnlichkeiten mit Homers Helden bestehen darüber hinaus nicht. Weder tritt Selysses als besonders listenreich in Erscheinung noch richtet er bei seinen Heimkünften ein Massaker an.
La lunga catena delle storie prima della storia, dove l'Iliade e 'Odissea formavano alcune maglie, si chiudeva con la morte di Odisseo. Dopo Odisseo comincia la vita senza eroi: so beginnt Roberto Calasso das elfte und vorletzte, den Trojanischen Krieg und Odysseus betreffende Kapitel seiner Verlebendigung der griechischen Mythologie Le nozze di Cadmo e Armonia. Eigentlich wollte Odysseus für sich persönlich das heroische Zeitalter schon zuvor beenden. Listenreich gibt er vor, den Verstand verloren zu haben, um, wehrdienstuntauglich, nicht nach Troja in den Kampf ziehen zu müssen. Nicht weniger listenreich aber läßt Palamedes seine Schauspielerei auffliegen und zwingt ihn, sich an der in jeder Hinsicht fragwürdigen Rettungsaktion für Helena zu beteiligen. Palamedes wird ihm daraufhin zum verhaßten Double im Reich der List, zu seinem Bruder Abel, den er nach sorgfältiger und listenreicher Vorbereitung erschlägt. Palamedes, davon nur wenig beeindruckt, rettet sich in die Artussage, in der er sich auf ähnliche Weise diesmal mit Tristan anlegt. Er schafft es sogar bis in Prousts Endzeitroman, wo er als Baron Charlus zum herausragenden Vertreter der untergehenden Welt des fin de siècle wird.

Was zeichnete die heroische Zeit aus, so die Frage, und Calasso antwortet: Il gesto eroico è questo dell'uccisione dei mostri. Da kommt uns als Vertreter der neoheroischen mittelalterlichen Zeit sogleich der aus Sebalds Werk vertraute Heilige und Drachentöter Georg in den Sinn, der eher noch als Palamedes die Aufnahme an Artus Hof verdient gehabt hätte. Hier nun, beim Schutzpatron des Autors und seines Erzählers, schimmert eine Ähnlichkeit mit Odysseus durch. Wie Odysseus ist Georg ein Aussteiger. Auf der linken Tafel des Lindenhardter Altars tritt uns der heilige Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten, den Verband der Heiligen, dem er sich wohl nie so recht zugehörig gefühlt hatte, verlassen. Auf Pisanellos Bild dann, in der Londoner Nationalgalerie, hat der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht. Auf dem Kopf trägt San Giorgio einen Strohhut, gleich wird er auch die Rüstung gegen einen weißen Sommeranzug eintauschen und sich in den Zirkus- und Hochseilartisten Giorgio Santini verwandeln, mit dem mittelalterlichen Rittertum ist es vorbei. Nehmen wir die in der Mythenwelt global vertretene Figur des Tricksters - bei den nordamerikanischen Indianern hat er vorwiegend die Gestalt eines Coyoten -, so übergreift er den Listenreichen, den Gaukler und den Künstler: Odysseus, San Giorgio/Giorgio Santini, Sebald/Selysses, drei Trickster. Kein Künstler kommt aus ohne List, und wenn Selysses als geschilderte Figur vielleicht wenig listenreich erscheint, so ist es der Dichter mit seinen Entwendungen, Lügen und falschen Deklarationen umso mehr. Auf Umwegen sind Selysses und Odysseus einander näher gekommen.
Wenn Odysseus die archaische Zeit und San Giorgio das Mittelalter beenden, so sieht Selysses das Ende unserer Zeit kommen. In der Morgenfrühe im verkehrslärmfreien Venedig denkt er daran, wie oft er schon in anderen Städten mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht hat. Im Verlauf der Jahre sei er zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird. Fürs erste sind die Menschen schon von den Maschinen verschluckt. Eigenartig berührt den Erzähler beim Blick aus einem fahrenden Zug, daß nirgends ein Mensch zu erblicken war, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeuge brausten. Vom Flugzeug aus sieht er weit unter sich einen Traktor, der, wie nach der Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker kroch und ihn in eine hellere und eine dunklere Hälfte teilte, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Wie wir unsere, in diesem Augenblick verschwindende Zeit, kennzeichnen sollen, wissen wir nicht. Altertum und Mittelalter haben im Rückblick Gestalt gewonnen, im Kontrast zu dem, das jetzt ist. Wie man aus einer Zeit, aus der der Mensch verschwunden ist, auf die unsere wird zurückblicken und urteilen können, ist schwer vorstellbar.

Montag, 10. November 2014

Figura Christi

Nur Jünger

Von Paul Bereyter heißt es einerseits, er sei gottgläubig, und andererseits, nichts sei ihm so zuwider wie die katholische Salbaderei. Das zielt wohl nicht auf die allgemein als Kunstwerk zur Bewahrung des Glaubens respektierte Tridentinische Messe, sondern auf Äußerungen im katholischen Alltag, wie man sie exemplarisch in den gelispelten Worten des Katecheten Meier sowie, mit dröhnender Stimme vorgetragen, vom Benefiziaten Meyer zu hören bekommt. Das für ihre Verrichtungen unerläßliche Weihwasser entnehmen sie einem das flammende Herz Christi darstellenden Behältnis. Der im flammenden Herzen aufscheinende physiologische Mystizismus will nicht mehr recht in unsere Zeit passen. San Giorgio war denn auch schon bald ausgestiegen aus Grünewalds Heiligentableau, auf dem mindestens einer der Heiligen den Kopf unterm Arm trug, um, den Anforderungen der Neuzeit entsprechend, mit einem Strohhut bekleidet bei Pisanello wieder aufzutauchen. Überhaupt nimmt der Anteil der Gläubigen ab in unserer Zeit, und die Zahl der Ungläubigen steigt. Aber auch viele Ungläubige wollen von der Gestalt des Christus nicht endgültig Abschied nehmen. Einige, die das Augenmerk auf die Unterstützung der Armen richten, sehen in ihm eine Art sehr frühen Karl Marx, dem allerdings die nationalökonomischen Kenntnisse noch fehlten. Andere sehen daraufhin theoretisch weniger belasteten Revolutionäre wie Che Guevara als für den Vergleich geeigneter an; Ches sadistische Gewaltbereitschaft fügt sich aber den Mindestanforderungen der Christenlehre nicht. Wieder andere betonen denn auch die Sanftmut des Christus und erkennen in ihm den ersten neuen Mann mit starker weiblicher Komponente und jedenfalls Herr seines Testosteron. Auf dem bekannten Szenenphoto aus Giants wird James Dean das im Nacken gehaltene Gewehr, beide Arme darüber geworfen, zum Kreuzesbalken, die Füße sind eng beieinander, ein Nagel würde reichen für die Fixierung, Liz Taylor schaut zu ihm auf, als sei sie Maria Magdalena, zwischen den Fingern der linken Hand aber hält er die Zigarette, sublimer Trost, der dem Gekreuzigten von Golgatha vorenthalten war. Der Frage, welche Absicht der Leinwanddichter mit der beeindruckenden Bildkomposition verfolgt hat, wollen wir nicht nachgehen. Selbst bei Chandlers Detektiv Marlowe sind schon Züge des Jesus von Nazareth entdeckt worden. Das wird ebenfalls übersprungen zugunsten der sich dann unmittelbar aufdrängenden Frage, ob sich ähnliches auch vom Erzähler und zugleich Ermittler im Kriminalroman Schwindel.Gefühle sowie in den folgenden drei Prosawerken sagen läßt.
Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah rings um sich auf die Jünger, die im Kreise saßen und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder: ein weitreichender Satz im Markusevangelium, der nicht nur die ihrerseits folgenreiche Glorifizierung der Kernfamilie mit Maria, Joseph und dem Jesuskind im Stall in Frage stellt, sondern auch die ursprüngliche Einheit von Gesellschafts- und Verwandtschaftsstrukturen, den Structures élémentaires de la parenté, und der zugleich auch schon den Universalismusbefehl des Paulus so gut wie vorwegnimmt: Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib. Das alles aber bleibt hier weitgehend unbeachtet und der Blick auf Selysses gerichtet.
Als Selysses uns das erste Mal begegnet, in Wien, hat er sich von der Familie, von der Mutter und den Brüdern mit den Worten des Evangelisten, entfernt, die weiteren Kontakte werden äußerst spärlich bleiben. Allerdings stehen auch keine Jünger als Ersatz bereit, er hat niemanden, mit dem er sprechen kann, bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel. Die Rekrutierung der Jünger geht im weiteren nur schleppend voran, Herbeck in Klosterneuburg ist zu nennen, Malachi in Venedig und Salvatore Altamura in Verona. Salvatore, das erzeugt ein leichtes Schwindelgefühl und den Eindruck der Seitenverkehrtheit. Tatsächlich ist es nicht Selysses, der beginnt, in Gleichnissen zu reden, von seinen Worten wird, wenn er denn reden sollte, nichts berichtet, es ist Malachi mit dem Prophetennamen, der sich zu den schwierigen Fragen der Auferstehung des Fleisches äußert und abschließend nach Jerusalem einlädt, es ist Altamura mit dem Namen des Heilands, Salvatore, der zum Abschied ein Engelsbild hinterläßt. Vergleichbar unmittelbar biblische Elemente fehlen bei der Rekrutierung von Selwyn, Bereyter, Mme. Landau, Adelwarth, Aurach und anderen in den Ausgewanderten und auch bei Austerlitz, sie tauchen wieder auf bei Le Strange, der von Vögeln umschwärmt wird wie der heilige Franz und sich in einem Erdloch vergräbt wie der heilige Hieronymus, oder bei Mrs. Ashbury, die zum Himmel auffährt und im Plafond steckenbleibt. Die biblischen Elemente sind aber ohnehin nicht das Entscheidende. Entscheidend ist das Zusammenleben der Jünger.
Selysses reist und wandert so rastlos durch die Welt wie Christus durch das Heilige Land, allerdings ohne eine zur Zahl zwölf anwachsende Jüngerschar, die ihm folgen würde. Wie die Kommentatoren ausführen, waren auch die Jünger allein, als sie dem Herrn folgten, denn sie verstanden ihn nicht, erst bei seinem Tode begann es ihnen zu dämmern, einem jeden für sich, und erst als er entrückt war, war er bei ihnen. Wer wollte bestreiten, daß es eine Form der Nächstenliebe ist, die zwischen Selysses und seinen Mitjüngern herrscht. Die Frauenquote, Mme. Landau, Mrs. Ashbury und einige andere sind zu nennen, hat sich gegenüber dem Gefolge Christi kaum verbessert, dennoch kann der Heiland zufrieden sein. Außerhalb des Kreises der Jünger und Jüngerinnen aber bleibt es bei der Betrachtung der Welt nicht bei dem einen, von Selysses diagnostizierten Kunstfehler, der dem Herrn bei der Heilung des Gadareners unterlaufen war, als zweitausend unschuldige Säue über die Klippe springen mußte. Blickt man unvoreingenommen ins weite Rund, so ist die Zahl der Kunstfehler Legion.

Mittwoch, 5. November 2014

Schmetterlingsmann


Seite 27

Man liest den letzten Satz: Rosa, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere. Dann schließt man das Buch und läßt das Gelesene noch einmal an sich vorüberziehen. Vier Schicksale, Selwyn, Bereyter, Adelwarth und Aurach, man hat unterwegs viele Länder besucht, England, Belgien, die Schweiz, die Vereinigten Staaten von Amerika, auch im Morgenland ist man gewesen; man ist Nabokow begegnet, wo war man ihm denn nur begegnet? Er ist schnell wieder aufgefunden, mit seinem Schmetterlingsnetz im Gebirge bedeckt er fast die gesamte Seite 27. Aber ist man ihm nicht irgendwo im Buch noch einmal begegnet, ist man ihm vielleicht in jeder der vier langen Erzählungen begegnet? Abgelichtet taucht er nicht noch einmal auf, die weitere Suche gestaltet sich daher ein wenig schwieriger. Sie habe, so Mme. Landau, damals in der Autobiographie Nabokows lesend, auf einer Parkbank in der Promenade des Cordeliers gesessen, und dort habe der Paul, nachdem er zweimal bereits an ihr vorübergegangen war, sie mit einer ans Extravagante grenzenden Höflichkeit auf diese ihre Lektüre hin angesprochen. - Als ich Adelwarth am letzten Tag seines Lebens auf seinem Zimmer besuchte, schaute er auf die jenseits des Parklands gelegene Moorwiese hinaus. Auf meine Frage, weshalb er nicht wie sonst zum vereinbarten Zeitpunkt sich eingefunden habe, erwiderte er: It must have slipped my mind whilst I was waiting for the butterfly man. - Die ebenso nahe wie unerreichbare Welt, habe mit solcher Macht ihn angezogen, daß er befürchtete, sich hineinstürzen zu müssen, wäre nicht auf einmal ein um die sechzig Jahre alter Mensch mit einem großen Schmetterlingsnetz aus weißer Gaze vor ihm gestanden und hätte in einem vornehmen Englisch gesagt, es sei jetzt an der Zeit, an den Abstieg zu denken, wenn man in Montreux noch zum Nachtmahl zurechtkommen wollte. Wenn er versuche, so Aurach, sich in die fragliche Zeit zurückzuversetzen, so sehe er sich in seinem Studium wieder bei der über nahezu ein Jahr sich hinziehenden schweren Arbeit an dem gesichtslosen Porträt Man with a Butterfly Net, das er für eines seiner verfehltesten Werke halte, weil es keinen auch nur annähernden Begriff gebe von der Seltsamkeit der Erscheinung, auf die es sich beziehe. Aurachs Mutter Luisa hatte ihrerseits als junges Mädchen bereits bei einem Familienausflug zwei sehr vornehme russische Herren gesehen, von denen er eine gerade ein ernstes Wort Wort sprach mit einem vielleicht zehnjährigen Knaben, der, mit der Schmetterlingsjagd beschäftigt, so weit zurückgeblieben war, daß man auf ihn habe warten müssen. Später erinnert sie sich wieder mit großer Deutlichkeit an den russischen Knaben, den sie längst vergessen gehabt hatte, und sieht ihn mit großer Deutlichkeit mit seinem Schmetterlingsnetz durch die Wiesen springen als den wiederkehrenden Glückboten jenes Sommertages, der nun aus seiner Botanisiertrommel sogleich die Admirale, Pfauenaugen, Zitronenfalter und Ligusterschwärmer entlassen würde zum Zeichen auch ihrer endlichen Befreiung.
Bei der Suche nach Nabokow ist alles andere ein wenig in den Hintergrund gerückt, so daß sich am Ende fast schon die Frage stellt, ob er, Nabokow, nicht vor Selwyn, Bereyter, Adelwarth und Aurach der eigentliche Protagonist des Werkes ist, immerhin treten sie nur in jeweils einer Erzählung auf, er dagegen in allen vier. Die Frage aber hat kein Gewicht, denn bekanntlich ist ohnehin allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen. So kann es nicht schaden, wenn wir den Schmetterlingsmann zum Protagonisten erklären und für einen Augenblick nur ihn ins Auge fassen. Naturgemäß aber hält er sich auf ganz andere Weise im Werk auf als Selwyn, Bereyter, Adelwarth oder Aurach, seine literarische Existenz ähnelt der des Jägers Gracchus oder des heiligen Georg, geheime Protagonisten in den Schwindel.Gefühlen.

In Dr. Selwyn tritt Nabokow als der allseits namentlich bekannte Entomologe in Erscheinung. Dabei geht es gar nicht um ihn, sein Bild dient nur dazu, einen Eindruck vom Aussehen des ihm in Gestalt und Haltung ähnlichen Selwyn zu vermitteln. Erzählerisch dient es dazu, Nabokow in markanter Weise die Bühne betreten zu lassen. In Bereyter tritt er dann als der namentlich allseits bekannte Autor auf. Sein Erinnerungsbuch, das das Buch eines, wenn man so sagen darf, multiplen Auswanderers ist, wird zu einer Brücke nicht nur zwischen Bereyter und Mme. Landau, sondern zwischen allen Ausgewanderten des Buches. In Ambros Adelwarth ist er der namenlose, Adelwarth naturgemäß nicht bekannte Entomologe, der von der benachbarten Cornell Universität wohl öfters auf das Gelände des Sanatoriums herüberwandert. Welche Art der Verbundenheit empfindet Adelwarth mit dem Schmetterlingsmann, die ihn an seinem letzten Lebenstag zum ersten Mal nach all der langen Zeit den Behandlungstermin vergessen läßt? Auch für Aurach ist Nabokow, inzwischen im Palace-Hotel in Montreux ansässig, ein ihm nicht weiter bekannter Mann mit einem Schmetterlingsnetz, den er in den Schweizer Bergen trifft. Die Zusammenkunft ist dichter als im Falle Adelwarths, der nur vom Fenster aus nach dem Schmetterlingsmann schaut, auch Worte werden gewechselt, Worte, die deutlich machen, daß der Schmetterlingsmann eine Art Schutzpatron der Ausgewanderten ist, der sie vor Schlimmen behütet. Die Faszination seines Auftretens, die auch Aurach, nicht zuletzt wegen seines besonderen Gemütszustandes, sogleich spürt, verlängert dieser in das künstlerische Schaffen. Es muß nicht zutreffen, daß Man with a Butterfly Net, eines seiner verfehltesten Werke ist, dort, wo man seinem künstlerischen Ideal womöglich am nächsten gekommen ist, mag die trotz allem verbleibende Distanz am bittersten sein. Das Porträt ist gesichtslos, gibt also den Porträtierten nicht zu erkennen, seine Anonymität bleibt gewahrt. Inwieweit eine Ähnlichkeit zum Bild auf Seite 27 besteht, wird nicht verraten. Das Schmetterlingsnetz läßt sich über das gesamte Buch dehnen, und noch weitaus mehr ließe sich entwirren, als hier versucht.
Wohl kein Leser hat bei der ersten Lektüre der Ausgewanderten das Nabokowmotiv einem close reading unterzogen, wie es hier ansatzweise versucht wurde. Ein close reading des gesamten Textes der Ausgewanderten wäre nicht möglich, jedes sorgfältige Lesen von Einzelheiten läßt den Rest des Textes zurückweichen, verschiebt dessen Bedeutungen, durchaus im Sinne einer dekonstruktivistischen Differanz. Bei ihrer ersten Lektüre der Recherche hatten Deleuze und Girard, um nur diese zu nennen, wohl wenig von dem im Sinn, was sie später dann jeweils zu Papier gebracht haben, Deleuze in Proust et les signes, Girard in Mensogne romantique et vérité romanesque. Beide haben dann bei wiederholten Lektüren jeweils andere Stellen des Riesenwerkes eng gelesen, die verbleibenden Stellen zurückgeschoben. Daß sich ihre Ausführungen ergänzen, wäre schon zuviel gesagt, immerhin aber kommen sie sich kaum ins Gehege.