Mittwoch, 15. Oktober 2014

Nel mezzo del cammin

Neuanfänge

Als ihm klar geworden sei, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können, habe Stendhal, so heißt es, den Entschluß gefaßt, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden, einige bestätigen ihm eine immerhin gute Annäherung an die Zielvorgabe. Nicht jedem ist ein derartiger Neuanfang zur Mitte des Lebensweges vergönnt, Kafka etwa, Selysses' anderer Begleiter in Oberitalien, sah sich angesichts der kurzen ihn erwartenden Lebensspanne veranlaßt, schon früh mit dem Schreiben zu beginnen, ähnliches gilt für Tschechow. Immerhin nahm sich der eine Zeit, begleitend die Juristerei zu erlernen, der andere die Heilkunde. Bei anderen wiederum ist der Neuanfang verborgen. Proust hat bis zur Mitte seines Weges mehr oder weniger gar nichts getan, die Zeit, wie es schien, unter ständigen Selbstvorwürfen vergeudet. Dann, ab einem gewissen Zeitpunkt, hat er nur noch geschrieben, man kann vermuten, mit der Absicht ein noch größerer Schriftsteller zu werden als Stendhal. Die Zeit zuvor hatte er entgegen dem Anschein nicht völlig verloren, er hatte die Augen offen gehalten, Zeugnis davon geben die fast tausend Seiten des posthum herausgegebenen Jean Santeuil eine Art Protorecherche, der alles fehlt, was der wahren Recherche ihren Glanz und ihre Tiefe verleiht, bloße wenn auch fraglos hinreißende Beobachtungen und Impressionen eines unbeteiligten Erzählers, der ein und aus geht in den Salons des Faubourg Saint-Germain und dabei auf die Versammelten und auch auf sich selbst wie durch eine Glasscheibe schaut, unberührt. Der Umstand, daß die Recherche, anders als Jean Santeuil, einen Icherzähler hat, besagt nicht, daß sich das Ich nun erhebt über die anderen, das Gegenteil ist richtig, es wird deutlich, wie das Ich sich in seinem rastlosen Begehren in die anderen verliert.
René Girard benennt Proust neben Cervantes, Stendhal, Flaubert und Dostojewski als Kronzeugen für den von ihm diagnostizierte Gegensatz von Lüge der Romantik und Wahrheit des Romans. Die Lüge der Romantik ist das verselbständigte, klarsichtige Ich, Souverän seiner selbst und seines Begehrens, die das Ideal erreichen sind die authentischen Menschen, die es verfehlen die nichtauthentischen; die Wahrheit des Romans ist das über die Strukturen der Mimesis mit den anderen verwobene Ich, darin sind sich alle mehr oder weniger wenn auch nicht unterschiedslos gleich. Der Schlüsselsatz der Wende von der Lüge zur Wahrheit findet Girard in Dostojewskis Записки из подполья, dem ersten nennens- und bewahrenswerten Buch des Dichters, die vorausgegangenen frühen Werke sind gleichsam sein Jean Santeuil: Я-то один, а они все - ich bin all ein und sie sind alle. Der Held des Buches steht noch auf der Seite der Lüge und hält den Satz für wahr, der Dichter durchschaut die Lüge des Satzes, die Trennung des Ichs von den anderen, und steht auf der Seite der Wahrheit. Der mimetischen Struktur kann niemand entkommen, am wenigsten im Hochmut oder im Gefühl der Erwähltheit. Heidegger se croit étranger au mimétisme ambiant, au Das Man. Et pourtant, au moment où on était nazi autour de lui, Heidegger, lui aussi, était nazi.
Sebald beginnt seine literarische Arbeit im ungefähren Todesalter Kafkas und Tschechows. Wenn es von vornherein seine Absicht war, das bedeutendste Prosawerk in deutscher Sprache des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben, hat er es nicht öffentlich verkündet. Das erste Auftreten seines Alter Ego als Erzähler der Schwindel.Gefühle hat ganz und gar nichts Triumphales. Ähnlichkeit mit Stendhal besteht aber darin, daß er das vorausliegende Metier des Literaturwissenschaftlers und -kritikers nicht selten gefechtsmäßig im Zeichen rivalisierender Mimesis betrieben hat, der Wechsel von der Wissenschaft zur Dichtung ist mithin kaum weniger radikal als der Wechsel herkommend vom Soldatentum. Sebald ist geistig aufgewachsen in der neoromantischen Zeit der achtundsechziger Jahre, und man ist versucht, die Schwindelgefühle mit der damals üblichen Begrifflichkeit von Identitätskrise, Identitätsverlust, Identitätssuche, bis hin zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu beschreiben. Tatsächlich ist sich Selysses seiner Sache in keine Weise sicher, er weiß nicht, warum er überhaupt unterwegs ist (viel besser wäre ich bei meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben), er versteht es nicht, sich eine ordentliche Mahlzeit zu verschaffen (meistens gerate ich wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht) und wenn er einmal so behandelt wird, wie es sich gehört, glaubt er gleich an ein Wunder (das Frühstück in der goldenen Taube grenzte ans Wunderbare). Aber nicht nur mit sich selbst, auch mit den anderen kennt er sich nicht aus, in Wien findet er gar niemand, mit dem er sprechen kann, bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, und auf der obersten Galerie des Mailänder Doms kann er sich nur mit größter Mühe zu der Erkenntnis durchringen, daß es sich bei den Menschen auf der Piazza weit unter ihm wohl um lauter Mailänder und Mailänderinnen handelt. Wie viele maßvoll begabte, aber auch wie manche der ganz großen Autoren kehrt er zurück to where it all began, an den Ort der Kindheit, Tolstois Детство, Prousts Combray. Der Neuanfang zur Lebensmitte verbündet sich, in der Art eines Resets, mit dem Anfang. Das Kind allerdings, und das ist die Besonderheit des Ritorno in Patria, bekommen wir so gut wie nicht zu Gesicht und erleben vielmehr nur, wie in einem Film mit subjektiver Kamera, mit seinen Augen die Dorfbewohner.

Liest man die vier Prosabände als eine einzige durchgehende Erzählung vom Leben des Selysses, so berichten die Schwindel.Gefühle von einem Selbst- und Weltverlust nel mezzo del cammin, die anderen drei Bände von einem Wiederfinden des Ichs nicht auf den Plätzen der romantischen Lüge, sondern in der Wahrheit der Prosaerzählung. Immer mehr wird Selysses, dabei an das erinnerte Ich der Kindheit anknüpfend, zum Wegbegleiter anderer, zu einem Therapeuten ohne heilende Absicht. Das bedeutet nicht, daß man sich über Gebühr nahe kommt. Bereyter hat Selysses nur als Kind gesehen, als der sein Lehrer war, Adelwarth nur ein Mal, auch als Kind bei einer Familienfeier. Aurach trifft er in großen Abständen in der menschenleeren, wie evakuiert wirkenden Stadt Manchester. Immer hat er Sorge, Austerlitz zu nahe zu treten, nicht zu fern und nicht, zu nah, pas trop près et pas trop loin les uns les autres, mais plutôt loin, so ist wohl die Einschätzung. Am Ende des Weges läßt Selysses sich von Austerlitz, wie Dante von Vergil, durch die Kreise der großen Hölle in Theresienstadt und das kleine Reich der Seligen in Andromeda Lodge führen. To the unhappy few könnte die Zueignung lauten, aber wer weiß schon, wenn es ernst wird, zwischen Glück und Unglück zuverlässig zu unterscheiden.

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