Donnerstag, 23. Oktober 2014

Frühe, helle Feste

Entwendete Glückseligkeit

Lévi-Strauss s'est permis, luxe suprême, de ne faire presque aucune allusion à l'extrême vulgarité du monde contemporain, so ein Anthropologe, René Girard, über den anderen, beide mit einem weiten Blick über die Menschheitsgeschichte. Susan Sontag hatte ähnliches vor Augen, als sie Sebalds Prosaarbeiten so sehr heraushob aus der zeitgenössischen Literatur. Der Dichter gibt diese Haltung weiter an seine Figuren, die wiederum entdecken sie bei anderen. Ernest wußte natürlich sehr wohl, daß der Nationalfeiertag der Grund für die ringsum aus der Finsternis aufleuchtenden Freudenfeuer war, vermied es aber auf das Taktvollste, meine Glückseligkeit durch irgendwelche aufklärerischen Bemerkungen zu stören. Überhaupt ist die Diskretion Ernests, der das jüngste Kind in einer vielköpfigen Arbeiterfamilie war, für mein Empfinden immer vorbildlich geblieben, und es hat niemand an sie herangereicht, mit Ausnahme vielleicht des Paul Bereyter, den ich leider viel zu spät kennengelernt habe.
Was Mme. Landaus ziemlich vernachlässigten Garten anbelangt, so war dem Paul ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen - es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr. Ob Mme. Landau nach Bereyters Tod die Gartenpflege in eigene Regie genommen hat, wissen wir nicht. Der Richter Frederick Farrar jedenfalls widmet sich, nachdem er in den Ruhestand eingetreten ist, ganz der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Beide, die Schweizerin und der Engländer, schauen auf ihr Leben in sehr geraffter Form zurück. Den Richter erfaßt ein gewisses Entsetzen bei dem Gedanken, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht zu haben, Mme. Landau erinnert sich an die ziemliche Zahl von Männern, die sie in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben, wie sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck hervorhob, des näheren kennengelernt hatte. Bis in die Einzelheiten entsinnen sich aber beide an ein Fest aus ihrer Kinderzeit mit einem gewissermaßen parasitären Einschlag - Michel Serres hat dem Wort ja längst seinen üblen Klang genommen -, ein Fest, an dem sie teilgenommen haben, ohne daß es für sie gedacht war, ein Fest, das sie für sich entwendet haben.
Es ist das Jahr 1914, als sich die Zeit wendete, Frederick ist acht Jahre alt. In der Schule hat bereits der Kinderkadett Francis Browne nach einer patriotischen Ansprache des Headmasters auf der Trompete einen Zapfenstreich geblasen. Noch aber tanzt die Hautevolee auf dem weit in die Nordsee hineinreichenden Pier von Lowestoft auf dem Wohltätigkeitsball unter der Schirmherrschaft eines Mitgliedes des Königlichen Hauses. Die gewöhnliche Bevölkerung, die zu der Veranstaltung naturgemäß keinen Zugang hatte, schaut in hundert und mehr Booten vom Meer aus zu, wie sich die bessere Gesellschaft zu den Klängen des Orchesters im Kreise dreht und in einer Lichterwoge gleichsam schwebt über dem nachtdunklen, schon von Nebelschwaden überzogenen Meer. Es ist eine Proustsche Szene, der Faubourg Saint Germain gleichsam auf dem Pier, die anderen, die keinen Zugang haben, draußen auf dem Wasser, die auf dem Wasser können im Grunde froh sein, daß ihnen die extrême vulgarité der Mme. Verdurin erspart bleibt. Aber ohnehin ist alles zusammengesunken zu einem impressionistisches Bild, das die Menschen, falls überhaupt, nur als gesichtslose, die Malerei belebende, selbst aber leblose Figuren erkennen läßt. Volle Gestalt dagegen haben die Mitglieder der Familie Farrar, die wie eine Karawane über den Strand und durch das Bild zieht, vornweg der Vater mit aufgekrempelten Hosen in Begleitung von zwei anderen Herren, die Mama allein mit dem Parasoleil, die drei Schwestern Violet, Iris und Rose mit ihren gerafften Röcken und dahinter die Dienstboten mit dem Eselchen, zwischen dessen Tragekörben Frederick seinen Sitz hatte. Dem ist dieses Familienbild vorgekommen wie einst der kleine Hof Jakobs des Zweiten in der Verbannung an der Küste von Den Haag. Die Verschiebung in Zeit und Raum ist eine Verschiebung aus der Zeit und dem Raum heraus. Die Erinnerung an das Fest ist wie mit einer Schutzhülle umgeben, die sie unvergänglich macht. Und so steht diese Erinnerung mit gleicher Kraft neben dem tatsächlichen Leben, das, vor und hinter dem Gesetz sozusagen, für den Richter eher auf den Wegen Kafkas als auf denen Prousts verläuft. Austerlitz, dem seine Kindheit ganz verloren war, findet sich wieder als sehr junger Teilnehmer an einer Festveranstaltung, einem Maskenball, verkleidet als Page in einem schneeweißen Kostüm, die Mantille über dem Arm, in der Hand einen extravaganten Hut mit einer Reiherfeder. Aber das ist nur einer wiederaufgefundenen Photographie abgelesen, das Fest ist vergessen und hat keine lebensstärkende Kraft, anders als bei Farrar und auch bei Mme. Landau.
Im Grunde hat Mme. Landau ihre Kindheit, das Zusammenleben mit ihrem verwitwetem Vater in eine so gut wie unmöblierten, leeren Villa am Neuenburgersee als ein großes Fest empfunden. Der Ankauf der kleinen Villa hatte das Vermögen erschöpft, für eine Inneneinrichtung fehlten die Mittel. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr niemals als ein Mangel erschienen, vielmehr wie eine durch eine wie eine durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung, so Mme. Landau, und der Dichter, die in Ritorno in patria beschriebene Einrichtung des eigenen Elternhauses vor Augen, hat volles Verständnis. An ihrem achten Geburtstag, offenbar das Alter für prägende Erinnerungen, hatte sie in der eingangs bereits erwähnten Weise mit ihrem Schulfreund Ernest gefeiert, wobei der Vater, in schwarzer Weste und einer Serviette über dem Arm, einen Kellner von seltener Zuvorkommenheit gespielt hatte. Für dieses Fest im wahrhaft engsten Familien- und Freundeszweig wurde das zum Nationalfeiertag rund um den See und überall in der Schweiz gezündete Raketenfeuerwerk gleichsam zu ihren Ehren entwendet.
Was ist unter der Teilnahme an einem Fest zu verstehen? Die Intensität der Teilnahme ist bei den Teilnehmern in keiner Weise gleich. Sieht man Festveranstaltungen als unter modernen Bedingungen von rituellen Aufgaben weitgehend entlastete Riten an, so bleibt im Wohltätigkeitsball und beim Nationalfeiertag diese Herkunft greifbar. Dabei dient das Fest als verblaßter Ritus aber nur noch dem Zusammenhalt der Menschen im Guten. Dem romantischen Helden, man denke an Jewgeni Onegin, dient das Fest nicht selten, sich als nichtteilnehmender Teilnehmer zu profilieren. Etwas ganz anderes aber ist in jedem Fall der Raub eines Festes im Alter von acht Jahren, der letzten Gelegenheit für die Festigung des Glaubens, das Leben meine es, bei aller späteren Befremdung, im Grunde gut mit einem. Ein entwendbares Fest ist ein moveable feast, ein Fest fürs Leben, wie es bei einem amerikanischen Autor heißt, hier ist der Titel mit einer neuen und doch ähnlichen Bedeutung unterlegt.

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