Donnerstag, 23. Oktober 2014

Frühe, helle Feste

Entwendete Glückseligkeit

Lévi-Strauss s'est permis, luxe suprême, de ne faire presque aucune allusion à l'extrême vulgarité du monde contemporain, so ein Anthropologe, René Girard, über den anderen, beide mit einem weiten Blick über die Menschheitsgeschichte. Susan Sontag hatte ähnliches vor Augen, als sie Sebalds Prosaarbeiten so sehr heraushob aus der zeitgenössischen Literatur. Der Dichter gibt diese Haltung weiter an seine Figuren, die wiederum entdecken sie bei anderen. Ernest wußte natürlich sehr wohl, daß der Nationalfeiertag der Grund für die ringsum aus der Finsternis aufleuchtenden Freudenfeuer war, vermied es aber auf das Taktvollste, meine Glückseligkeit durch irgendwelche aufklärerischen Bemerkungen zu stören. Überhaupt ist die Diskretion Ernests, der das jüngste Kind in einer vielköpfigen Arbeiterfamilie war, für mein Empfinden immer vorbildlich geblieben, und es hat niemand an sie herangereicht, mit Ausnahme vielleicht des Paul Bereyter, den ich leider viel zu spät kennengelernt habe.
Was Mme. Landaus ziemlich vernachlässigten Garten anbelangt, so war dem Paul ein wahrhaft einmaliges Verwandlungswerk gelungen. Die jungen Bäume, die Blumen, die Blatt- und Kletterpflanzen, die Rosensträucher, die Stauden und Boschen - es war alles am Wachsen, und nirgends gab es eine kahle Stelle mehr. Ob Mme. Landau nach Bereyters Tod die Gartenpflege in eigene Regie genommen hat, wissen wir nicht. Der Richter Frederick Farrar jedenfalls widmet sich, nachdem er in den Ruhestand eingetreten ist, ganz der Zucht seltener Rosen und Veilchen. Beide, die Schweizerin und der Engländer, schauen auf ihr Leben in sehr geraffter Form zurück. Den Richter erfaßt ein gewisses Entsetzen bei dem Gedanken, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht zu haben, Mme. Landau erinnert sich an die ziemliche Zahl von Männern, die sie in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben, wie sie mit einem spöttischen Gesichtsausdruck hervorhob, des näheren kennengelernt hatte. Bis in die Einzelheiten entsinnen sich aber beide an ein Fest aus ihrer Kinderzeit mit einem gewissermaßen parasitären Einschlag - Michel Serres hat dem Wort ja längst seinen üblen Klang genommen -, ein Fest, an dem sie teilgenommen haben, ohne daß es für sie gedacht war, ein Fest, das sie für sich entwendet haben.
Es ist das Jahr 1914, als sich die Zeit wendete, Frederick ist acht Jahre alt. In der Schule hat bereits der Kinderkadett Francis Browne nach einer patriotischen Ansprache des Headmasters auf der Trompete einen Zapfenstreich geblasen. Noch aber tanzt die Hautevolee auf dem weit in die Nordsee hineinreichenden Pier von Lowestoft auf dem Wohltätigkeitsball unter der Schirmherrschaft eines Mitgliedes des Königlichen Hauses. Die gewöhnliche Bevölkerung, die zu der Veranstaltung naturgemäß keinen Zugang hatte, schaut in hundert und mehr Booten vom Meer aus zu, wie sich die bessere Gesellschaft zu den Klängen des Orchesters im Kreise dreht und in einer Lichterwoge gleichsam schwebt über dem nachtdunklen, schon von Nebelschwaden überzogenen Meer. Es ist eine Proustsche Szene, der Faubourg Saint Germain gleichsam auf dem Pier, die anderen, die keinen Zugang haben, draußen auf dem Wasser, die auf dem Wasser können im Grunde froh sein, daß ihnen die extrême vulgarité der Mme. Verdurin erspart bleibt. Aber ohnehin ist alles zusammengesunken zu einem impressionistisches Bild, das die Menschen, falls überhaupt, nur als gesichtslose, die Malerei belebende, selbst aber leblose Figuren erkennen läßt. Volle Gestalt dagegen haben die Mitglieder der Familie Farrar, die wie eine Karawane über den Strand und durch das Bild zieht, vornweg der Vater mit aufgekrempelten Hosen in Begleitung von zwei anderen Herren, die Mama allein mit dem Parasoleil, die drei Schwestern Violet, Iris und Rose mit ihren gerafften Röcken und dahinter die Dienstboten mit dem Eselchen, zwischen dessen Tragekörben Frederick seinen Sitz hatte. Dem ist dieses Familienbild vorgekommen wie einst der kleine Hof Jakobs des Zweiten in der Verbannung an der Küste von Den Haag. Die Verschiebung in Zeit und Raum ist eine Verschiebung aus der Zeit und dem Raum heraus. Die Erinnerung an das Fest ist wie mit einer Schutzhülle umgeben, die sie unvergänglich macht. Und so steht diese Erinnerung mit gleicher Kraft neben dem tatsächlichen Leben, das, vor und hinter dem Gesetz sozusagen, für den Richter eher auf den Wegen Kafkas als auf denen Prousts verläuft. Austerlitz, dem seine Kindheit ganz verloren war, findet sich wieder als sehr junger Teilnehmer an einer Festveranstaltung, einem Maskenball, verkleidet als Page in einem schneeweißen Kostüm, die Mantille über dem Arm, in der Hand einen extravaganten Hut mit einer Reiherfeder. Aber das ist nur einer wiederaufgefundenen Photographie abgelesen, das Fest ist vergessen und hat keine lebensstärkende Kraft, anders als bei Farrar und auch bei Mme. Landau.
Im Grunde hat Mme. Landau ihre Kindheit, das Zusammenleben mit ihrem verwitwetem Vater in eine so gut wie unmöblierten, leeren Villa am Neuenburgersee als ein großes Fest empfunden. Der Ankauf der kleinen Villa hatte das Vermögen erschöpft, für eine Inneneinrichtung fehlten die Mittel. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr niemals als ein Mangel erschienen, vielmehr wie eine durch eine wie eine durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung, so Mme. Landau, und der Dichter, die in Ritorno in patria beschriebene Einrichtung des eigenen Elternhauses vor Augen, hat volles Verständnis. An ihrem achten Geburtstag, offenbar das Alter für prägende Erinnerungen, hatte sie in der eingangs bereits erwähnten Weise mit ihrem Schulfreund Ernest gefeiert, wobei der Vater, in schwarzer Weste und einer Serviette über dem Arm, einen Kellner von seltener Zuvorkommenheit gespielt hatte. Für dieses Fest im wahrhaft engsten Familien- und Freundeszweig wurde das zum Nationalfeiertag rund um den See und überall in der Schweiz gezündete Raketenfeuerwerk gleichsam zu ihren Ehren entwendet.
Was ist unter der Teilnahme an einem Fest zu verstehen? Die Intensität der Teilnahme ist bei den Teilnehmern in keiner Weise gleich. Sieht man Festveranstaltungen als unter modernen Bedingungen von rituellen Aufgaben weitgehend entlastete Riten an, so bleibt im Wohltätigkeitsball und beim Nationalfeiertag diese Herkunft greifbar. Dabei dient das Fest als verblaßter Ritus aber nur noch dem Zusammenhalt der Menschen im Guten. Dem romantischen Helden, man denke an Jewgeni Onegin, dient das Fest nicht selten, sich als nichtteilnehmender Teilnehmer zu profilieren. Etwas ganz anderes aber ist in jedem Fall der Raub eines Festes im Alter von acht Jahren, der letzten Gelegenheit für die Festigung des Glaubens, das Leben meine es, bei aller späteren Befremdung, im Grunde gut mit einem. Ein entwendbares Fest ist ein moveable feast, ein Fest fürs Leben, wie es bei einem amerikanischen Autor heißt, hier ist der Titel mit einer neuen und doch ähnlichen Bedeutung unterlegt.

Samstag, 18. Oktober 2014

Selysses und der Elohist

Wacholderduft bei Delphi

Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth reisen über Athen und Konstantinopel, heute Istanbul, nach Jerusalem. Athen und Jerusalem, Griechen- und Judentum, bilden nach verbreiteter Überzeugung die Zwillingswiege der abendländischen Kultur, im Christentum, das die abendländischen Kultur über zweitausend Jahre nahezu konkurrenzlos bestimmt hat, sind Jerusalem und Athen eine unentwirrbare Verbindung eingegangen. Die Idee, auch das ebenfalls bereiste Istanbul sei Teil Europas, liegt derzeit angesichts der Umtriebe des sogenannten Islamischen Staats auf Eis. Erich Auerbach betrachtet die Wiege der europäischen Erzählkunst und legt in Die Narbe des Odysseus, dem Eingangskapitel seines Buches Mimesis, bei der Besprechung einmal eines Abschnitts aus der Odyssee, dem der Wiedererkennung des Odysseus durch die Magd, und zum anderen des Isaakopfers im Alten Testament zwei grundverschiedene Weisen der Realitätserfassung frei.
Bei Homer ist alles vollkommen klar, kein Umriß verschwimmt. Auch für wohlgeordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßig beleuchtende Beschreibung der Geräte, Handreichungen und Gesten ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt. Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich die Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes: und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet sind die Gefühle und Gedanken. Ganz anders der Elohist. Gott gibt einen Befehl, und es beginnt die Erzählung selbst, ohne jede Einschaltung, in wenigen Hauptsätzen, deren syntaktische Verbindung miteinander äußerst arm ist, rollt sie ab. Undenkbar wäre es hier, ein Gerät, das gebraucht wird, eine Landschaft, die man durchquert, zu beschreiben, das Aussehen der Geräte oder ihre Brauchbarkeit rühmend zu schildern, nicht einmal ein Adjektiv ertragen sie, es sind Knechte, Esel, Holz und Messer, weiter nichts. - Nicht leicht lassen sich größere Stilgegensätze vorstellen als zwischen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten. Auf der einen Seite ausgeformte, gleichmäßig belichtete, orts- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen. Auf der anderen Seite wird nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel: Rembrandt als der naturgemäße Maler des Alten Testaments. Die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos. Die Handlung wiederum ist nur Ausdruck der in ihrem Hintergrund verborgenen Wahrheit Gottes.
Wenn man also annehmen wollte, die europäische Erzählkunst sei aus diesen beiden grundverschiedenen Ansätzen hervorgegangen, so sicher nicht in der Weise, daß die beiden Stränge sich getrennt voneinander ein jeder in seiner Richtung weiterentwickelt hätten, sie haben sich unendlich oft gekreuzt und auf endlose Weise miteinander verwoben, und doch würde man, denkt man etwa an die zwei großen Russen des neunzehnten Jahrhunderts, ohne viel Umstände Dostojewski Jerusalem und Tolstoi Athen zuordnen. Bei Sebald liegen die Dinge verzwickter. Die ständigen Wanderbewegungen seines Erzählers haben uns veranlaßt, ihn, erinnernd an den griechischen Reisenden, Selysses zu nennen. Was der Dichter Pisanello abliest, gilt auch für ihn selbst: Allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt wird dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen - auch das, möchte man meinen, ein deutlicher Fingerzeig hin zur griechischen Seite. Die ebenso reichen wie schwerelosen Sätze vermitteln den Eindruck, alles sei in ihnen restlos ausgedrückt. Die Situationen sind immer exakt orts- und zeitbestimmt, aber bald fragt man sich, warum eigentlich, die Exaktheit verliert sich ohne Spuren zu hinterlassen. Kein gleichgültiger Blick geht über eine namen- und gestaltlose Landschaft hinweg, über eine nicht weiter bestimmte selva oscura etwa. Hier stehen die astlosen, gut siebzig- bis achtzigjährigen Fichten die Abhänge hinauf. Immer wieder, wenn die Luft ein wenig in Bewegung geriet, regnete das Tropfwasser in Güssen herunter. Stellenweise, wo es lichter war, wuchsen vereinzelte, längst blattlose Buchen, das Geäst und die Stämme von der fortwährenden Nässe geschwärzt. Keinen Laut gab es in dem Tobel, als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei nichts. Das ist reich in der Erfassung, kein Gedanke aber, es sei alles, hinter den lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen gäbe es nicht einen verborgenen Hintergrund, der immer wieder durch die geschilderte Realität bricht. Einmal fielen mir ein paar Hühner auf mitten in einem grünen Feld, die sich, obschon es doch noch gar nicht lange zu regnen aufgehört hatte, für ein die winzigen Tiere, wie mir schien, endloses Stück von dem Haus entfernt hatten, zu dem sie gehörten. Aus einem mir nach wie vor nicht ganz erfindlichen Grund ist mir der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar damals sehr ans Herz gegangen. Überhaupt weiß ich nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das mich manchmal so rührt. Ja, was rührt uns bei der Betrachtung der Welt, was verbirgt sich hinter den Erscheinungen.

Selysses geht unter ständigen Schwindelgefühle durch eine, wie die geregelte Satzfolge suggeriert, völlig aufgeräumte Welt, in einem fortwährenden Wechsel aber von Ausleuchten des Vordergrunds und Erahnen des Verborgenen. Auch bei Dostojewski ist unter der Leitung des Elohisten Homer am Werke, bei Tolstoi unter der Leitung Homers der Elohist. Hier aber scheint es sich fast schon um ein explizites und extremes Spiel mit den beiden Formansätzen zu handeln. Auf der Elohistenseite ist es naturgemäß so, daß das immer wieder durchscheinende Verborgene nicht auf eine souveräne Wahrheit verweist, die Gotteswelt liegt in Trümmern, der heilige Franziskus treibt mit dem Gesicht nach unten im Sumpf, Rembrandt tritt nicht als Schilderer des göttlichen Versprechens auf, als Teilnehmer an der Prosektur des Dr. Tulp sieht er, bereits zwei Schritte weiter, das Scheitern der Neuzeit.

Von Athen und Griechenland nehmen Cosmo Solomon und Ambros Adelwarth auf ihrer Reise kaum Notiz, kaum glaube ich, daß ich derselbe Mensch und in Griechenland bin, aber ab und zu weht der Geruch der Wacholderbäume zu uns herüber, und so ist es wohl wahr; Jerusalem ist, so scheint es, eine bittere Enttäuschung, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat, on marche sur des merdes; Istanbul kann sich in mancher Beziehung sehen lassen. Man müßte darüber nachdenken.

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Nel mezzo del cammin

Neuanfänge

Als ihm klar geworden sei, daß er sein Glück nicht im Dienst der Armee würde machen können, habe Stendhal, so heißt es, den Entschluß gefaßt, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden, einige bestätigen ihm eine immerhin gute Annäherung an die Zielvorgabe. Nicht jedem ist ein derartiger Neuanfang zur Mitte des Lebensweges vergönnt, Kafka etwa, Selysses' anderer Begleiter in Oberitalien, sah sich angesichts der kurzen ihn erwartenden Lebensspanne veranlaßt, schon früh mit dem Schreiben zu beginnen, ähnliches gilt für Tschechow. Immerhin nahm sich der eine Zeit, begleitend die Juristerei zu erlernen, der andere die Heilkunde. Bei anderen wiederum ist der Neuanfang verborgen. Proust hat bis zur Mitte seines Weges mehr oder weniger gar nichts getan, die Zeit, wie es schien, unter ständigen Selbstvorwürfen vergeudet. Dann, ab einem gewissen Zeitpunkt, hat er nur noch geschrieben, man kann vermuten, mit der Absicht ein noch größerer Schriftsteller zu werden als Stendhal. Die Zeit zuvor hatte er entgegen dem Anschein nicht völlig verloren, er hatte die Augen offen gehalten, Zeugnis davon geben die fast tausend Seiten des posthum herausgegebenen Jean Santeuil eine Art Protorecherche, der alles fehlt, was der wahren Recherche ihren Glanz und ihre Tiefe verleiht, bloße wenn auch fraglos hinreißende Beobachtungen und Impressionen eines unbeteiligten Erzählers, der ein und aus geht in den Salons des Faubourg Saint-Germain und dabei auf die Versammelten und auch auf sich selbst wie durch eine Glasscheibe schaut, unberührt. Der Umstand, daß die Recherche, anders als Jean Santeuil, einen Icherzähler hat, besagt nicht, daß sich das Ich nun erhebt über die anderen, das Gegenteil ist richtig, es wird deutlich, wie das Ich sich in seinem rastlosen Begehren in die anderen verliert.
René Girard benennt Proust neben Cervantes, Stendhal, Flaubert und Dostojewski als Kronzeugen für den von ihm diagnostizierte Gegensatz von Lüge der Romantik und Wahrheit des Romans. Die Lüge der Romantik ist das verselbständigte, klarsichtige Ich, Souverän seiner selbst und seines Begehrens, die das Ideal erreichen sind die authentischen Menschen, die es verfehlen die nichtauthentischen; die Wahrheit des Romans ist das über die Strukturen der Mimesis mit den anderen verwobene Ich, darin sind sich alle mehr oder weniger wenn auch nicht unterschiedslos gleich. Der Schlüsselsatz der Wende von der Lüge zur Wahrheit findet Girard in Dostojewskis Записки из подполья, dem ersten nennens- und bewahrenswerten Buch des Dichters, die vorausgegangenen frühen Werke sind gleichsam sein Jean Santeuil: Я-то один, а они все - ich bin all ein und sie sind alle. Der Held des Buches steht noch auf der Seite der Lüge und hält den Satz für wahr, der Dichter durchschaut die Lüge des Satzes, die Trennung des Ichs von den anderen, und steht auf der Seite der Wahrheit. Der mimetischen Struktur kann niemand entkommen, am wenigsten im Hochmut oder im Gefühl der Erwähltheit. Heidegger se croit étranger au mimétisme ambiant, au Das Man. Et pourtant, au moment où on était nazi autour de lui, Heidegger, lui aussi, était nazi.
Sebald beginnt seine literarische Arbeit im ungefähren Todesalter Kafkas und Tschechows. Wenn es von vornherein seine Absicht war, das bedeutendste Prosawerk in deutscher Sprache des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben, hat er es nicht öffentlich verkündet. Das erste Auftreten seines Alter Ego als Erzähler der Schwindel.Gefühle hat ganz und gar nichts Triumphales. Ähnlichkeit mit Stendhal besteht aber darin, daß er das vorausliegende Metier des Literaturwissenschaftlers und -kritikers nicht selten gefechtsmäßig im Zeichen rivalisierender Mimesis betrieben hat, der Wechsel von der Wissenschaft zur Dichtung ist mithin kaum weniger radikal als der Wechsel herkommend vom Soldatentum. Sebald ist geistig aufgewachsen in der neoromantischen Zeit der achtundsechziger Jahre, und man ist versucht, die Schwindelgefühle mit der damals üblichen Begrifflichkeit von Identitätskrise, Identitätsverlust, Identitätssuche, bis hin zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu beschreiben. Tatsächlich ist sich Selysses seiner Sache in keine Weise sicher, er weiß nicht, warum er überhaupt unterwegs ist (viel besser wäre ich bei meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben), er versteht es nicht, sich eine ordentliche Mahlzeit zu verschaffen (meistens gerate ich wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht) und wenn er einmal so behandelt wird, wie es sich gehört, glaubt er gleich an ein Wunder (das Frühstück in der goldenen Taube grenzte ans Wunderbare). Aber nicht nur mit sich selbst, auch mit den anderen kennt er sich nicht aus, in Wien findet er gar niemand, mit dem er sprechen kann, bloß mit den Dohlen in den Anlagen vor dem Rathaus hat er einiges geredet und mit einer weißköpfigen Amsel, und auf der obersten Galerie des Mailänder Doms kann er sich nur mit größter Mühe zu der Erkenntnis durchringen, daß es sich bei den Menschen auf der Piazza weit unter ihm wohl um lauter Mailänder und Mailänderinnen handelt. Wie viele maßvoll begabte, aber auch wie manche der ganz großen Autoren kehrt er zurück to where it all began, an den Ort der Kindheit, Tolstois Детство, Prousts Combray. Der Neuanfang zur Lebensmitte verbündet sich, in der Art eines Resets, mit dem Anfang. Das Kind allerdings, und das ist die Besonderheit des Ritorno in Patria, bekommen wir so gut wie nicht zu Gesicht und erleben vielmehr nur, wie in einem Film mit subjektiver Kamera, mit seinen Augen die Dorfbewohner.

Liest man die vier Prosabände als eine einzige durchgehende Erzählung vom Leben des Selysses, so berichten die Schwindel.Gefühle von einem Selbst- und Weltverlust nel mezzo del cammin, die anderen drei Bände von einem Wiederfinden des Ichs nicht auf den Plätzen der romantischen Lüge, sondern in der Wahrheit der Prosaerzählung. Immer mehr wird Selysses, dabei an das erinnerte Ich der Kindheit anknüpfend, zum Wegbegleiter anderer, zu einem Therapeuten ohne heilende Absicht. Das bedeutet nicht, daß man sich über Gebühr nahe kommt. Bereyter hat Selysses nur als Kind gesehen, als der sein Lehrer war, Adelwarth nur ein Mal, auch als Kind bei einer Familienfeier. Aurach trifft er in großen Abständen in der menschenleeren, wie evakuiert wirkenden Stadt Manchester. Immer hat er Sorge, Austerlitz zu nahe zu treten, nicht zu fern und nicht, zu nah, pas trop près et pas trop loin les uns les autres, mais plutôt loin, so ist wohl die Einschätzung. Am Ende des Weges läßt Selysses sich von Austerlitz, wie Dante von Vergil, durch die Kreise der großen Hölle in Theresienstadt und das kleine Reich der Seligen in Andromeda Lodge führen. To the unhappy few könnte die Zueignung lauten, aber wer weiß schon, wenn es ernst wird, zwischen Glück und Unglück zuverlässig zu unterscheiden.

Montag, 6. Oktober 2014

Chefs & Dons

Juste distance

Der Plot verschiedener Bücher von P.D. James beruht auf einer Führungsperson männlicher oder weiblicher Art mit derart rüdem Benehmen im beruflichen wie auch im privaten Umfeld, daß sie nach einem für das Genre auffällig umfänglichen Vorlauf von achtzig bis hundertundfünfzig Seiten gewaltsam aus dem Leben gerufen wird; dem Ermittlerteam um Commander Dalgliesh obliegt es dann, während weiterer dreihundert Seiten herauszufinden, wer, beruflich oder privat motiviert, sich ein Herz gefaßt hatte. Selysses, soviel läßt sich wohl erkennen, übt den Beruf eines Hochschullehrers aus, nach der überkommenen deutschen Universitätsvorstellung eine mehr oder weniger vorgesetztenfreie Daseinsweise. Aber, kaum etwas ist so unwandelbar wie die Bosheit, mit der Literaten und auch Wissenschaftler hinterrücks übereinander reden. Bei unblutiger Bosheit muß es nicht bleiben, in einigen Büchern von Dorothy Sayers oder Colin Dexter dezimieren die Dons diverser Oxfordcolleges einander so unnachsichtig, daß der Lehrbetrieb ernstlich in Gefahr gerät. Wenn die Menschen auf das Gleiche schauen und sich vergleichen, sei es in der Vertikalen, also in der Hierarchie, oder auch in der Horizontalen, bahnt sich oft Böses an, und auch die von Luhmann diagnostizierte friedensstiftende Kraft von Organisationen hat ihre Grenzen. Ordnet man die Vertikale der traditionellen Gesellschaft und die Horizontale der modernen, als demokratisch beschriebenen zu, so hat sich, was die Gewaltbereitschaft anbelangt, eine Besserung nicht ergeben.
 
Bevor er zu seiner englischen Wallfahrt aufbricht, verabschiedet sich der mutmaßliche Hochschullehrer Selysses von zwei verstorbenen Kollegen. Beider Tod ist in keiner Weise suspicious, auffällig ist aber, daß im gesamten Werk den beiden toten kein einziger lebender Don zur Seite steht, von Selysses selbst abgesehen. Um Michael Parkinson und Janine Rosalind Dakyns nahe zu sein, wartet Selysses die größte Entfernung ab, den Tod. Weitere vergleichbare horizontale Gruppen treten im Werk nicht auf, auch keine vertikalen. In der goldenden Taube zu Verona wird Selysses vom an Ferdinand Bruckner erinnernden Portier und der Geschäftsführerin in Empfang genommen, in der Realität des Hotels wird ein hierarchisches Verhältnis sichtbar, das aber keine Auswirkungen auf die Erzählung hat. Am Feierabend rettet sich Salvatore Altamura aus der Redaktion in die Prosa wie auf eine Insel. Berufliche Spannungen vertikaler oder horizontaler Art könnten sich andeuten, aber nun ist er bereits auf seiner Insel, die sprichwörtlich ist für einen möglichst großen Abstand zwischen den Menschen. Auch die Familie, gemeinhin bekannt als Keimzelle der Gesellschaft und des Verbrechens zugleich, scheidet aus als kriminalistischer Ursprungsort. Wir stoßen nur auf eine intakte Kernfamilie, Vater Mutter, Kind, die Michelottis in Limone. Zu Gesicht bekommen wir fast nur Luciana, die, an sich resolut und lebenstüchtig, einen schwermütig, wo nicht gar untröstlichen Eindruck macht. Unmerklich scheint sie sich zu Selysses hingezogen zu fühlen, und einmal ist es dem gar gewesen, als spürte er ihre Hand auf seiner Schulter. Die bigamistische Trauung vor dem Postenkommandanten währt dann aber nur den Hauch eines Augenblicks, sie steigt ins Auto, legt den Gang ein und fährt davon, der denkbare Anlaß für eine Bluttat hat sich verflüchtigt.

Man trifft im Werk nur amorphe, für den Augenblick offenbar gleichgesinnte Menschenmassen, vorzugsweise Touristen, und Einzelne, dem Verbrechen scheint mit der vertikal oder horizontal geordneten Gruppe sowie dem Familienverband der Nährboden entzogen, und doch erläutert Selysses der an seiner Arbeit interessierten Luciana Michelotti, bei dem Buch, an dem er schreibt und das wir lesen, handele es sich um einen Kriminalroman. Die kriminalistische Aufgabe besteht nicht darin, den Täter, sondern das Verbrechen zu finden. Auf der ersten Reise fühlt sich Selysses von zwei ihm offensichtlich feindlich gesonnenen Augenpaaren verfolgt, zu einer strafrechtlich relevanten Tat aber kommt es nicht. Der räuberische, erfolgreich abgewehrte Angriff in Mailand kann die Klassifizierung als Kriminalroman nicht rechtfertigen, auch nicht die Beschäftigung mit einer von Sciascia erzählten Kriminalgeschichte oder das Interesse an den Untaten der Gruppe Ludwig. Was bleibt ist das ungeklärte mythische Verbrechen des Jägers Gracchus auf der einen und das sich anbahnende Menschheitsverbrechen des Jahres 1913 auf 1914, als die Zeit sich wendete, auf der anderen Seite; besteht ein geheimer Zusammenhang?
Der Abstand zwischen den Lebenden wird vergrößert, der zu den Toten und Untoten verringert. Die Welt scheint gereinigt von den Verbrechen auf dem Niveau des klassischen Kriminalroman, ein Raum der Friedfertigkeit tut sich auf, eine aufgeräumte Welt, wenn die Schwindelgefühle nachlassen, eine kurze Weile wohl nur, für die wir dankbar sind. Vom Horizont her aber drohen die großen Verbrechen im genozidalen Maßstab, die zurückreichen bis zu den Heimlichkeiten vom Anfang der Welt. Nous vivons dans un monde où nous sommes toujours trop près ou trop loin les un des autres, toujours indifférents ou possédés mais jamais à juste distance. Ce point indivisible, qui soit le véritable lieu, n'est autre que la charité. Elle permet d'envisager l'autre à la juste distance: so das gemeinsame Urteil von Pascal und Girard. In der Vertikalen sind wir uns tendentiell zu fern, in der Horizontalen tendentiell zu nah. Charité wäre mit Barmherzigkeit zu übersetzen, wenn man dem Wort das Gefälle, den Verdacht der Herablassung nimmt. Der nächstliegende nicht asymmetrische Begriff wäre der der Gnade, dafür aber bedarf es eines unsichtbaren Dritten, eines fernen Mediators.

Die juste distance, das ist für Sebald weit weg von zu nah und nur einen Schritt entfernt von zu fern, meilenweit aber von der Gleichgültigkeit. Bereyter und Adelwarth sind in die Nähe gerückte Tote, Selwyn und Aurach werden zu ihrem Tode hin begleitet, ohne daß sie sich entfernten, Austerlitz und Selysses begegnen sich oft erst nach viele Jahren wieder. Man mag sie alle, die Ausgewanderten, als Freunde beschreiben, wenn man dieses Wort im Umfeld von Barmherzigkeit oder Gnade ansiedelt. Die lebendige Freundschaft Selysses' mit Austerlitz, das ist das Neue, ist mit dem Ende der Erzählung nicht beendet, die beiden mögen sich noch weitere Male treffen, ohne das wir davon erfahren. Verschiedene Bestseller und Kriminalromanserien sind von anderen fortgeschrieben worden, das erwarten und wünschen wir im Falle von Austerlitz nicht.