Sonntag, 3. August 2014

Mütter

Seltsamer Theatergeruch


An die elterliche Wohnung im Engelwirt erinnert sich Selysses bei der Rückkehr ins Vaterland im Leerzustand, ohne daß Vater und Mutter auftreten würden. Das Kind ganz rückwärts mit dem Kreuzchen über dem Kopf, ist deine Mutter, die Rosa, erfährt er an anderer Stelle. Könnten wir sie auf der Photographie erkennen, würden wir die Rosa als Kind und nicht als Mutter des Erzählers sehen. Auch Aurachs Mutter erleben wir bei der Lektüre ihres Tagebuchs als Kind und nicht als Mutter. Bei Selwyns Abreise aus dem litauischen Dorf wird die Mutter erwähnt als eine derjenigen, die auf dem Wagen sitzen, ein besonderer Blick aber gilt ihr nicht. Von Bereyters Mutter hören wir, sie habe Thekla geheißen und im Nürnberger Stadttheater auf der Bühne gestanden, eine Kollegin der Agata also, vom Verhältnis zu ihrem Sohn aber erfahren wir wenig. Den kleinen Paul sehen wir ohne die Mutter auf seinem Dreirädchen, wie er sich auf der untersten Ebene des vom Vater betriebenen Emporiums auf seinem Dreirädchen fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln. Die Mütter des Ambros Adelwarth und des Cosmo Solomon bleiben gänzlich unerwähnt. Wir sehen den Cosmo mit schon zerstörtem Geist in seinem alten Kinderzimmer reglos auf einem Schemel stehend, der Blick hinaus aufs Meer, und versuchen uns vorzustellen, wie er in diesem Raum unter den Augen seiner Mutter als Kind gespielt hat.

Als Joseph Conrad geboren wird, ist seine Mutter fünfzehn Jahre alt, als sie acht Jahre später dreiundzwanzigjährig stirbt, hat sie ihn wie seine ältere und immerfort kranke Schwester die kurze gemeinsame Lebensspanne begleitet, beide fortwährend im Gefolge des politisch umtriebigen Vaters. Am Verbannungsort Wologda regnet es während des grünen Winters ohne Unterlaß, im weißen Winter sinkt das Thermometer auf unvorstellbare Tiefen. Die Tuberkulose, an der Ewelina Korzeniowska seit Jahren leidet, entfaltet sich unter diesen Umständen ungehindert. Der Krankheit und dem Heimweh, das ihre Seele zersetzte, kann sie nicht lange standhalten. Edward FitzGeralds Mutter ist von grundsätzlich anderem Kaliber. In ihrer äußeren Erscheinung sah sie dem Admiral Wellington verblüffend ähnlich. Immer, wenn die meist auswärts weilende Mutter anreiste, standen Edward und seine Geschwister wie versteinert hinter den Fenstern der Kinderstuben im obersten Stock oder hielten sich versteckt in dem Gebüsch bei der Einfahrt, zu eingeschüchtert von ihrer Herrlichkeit, als daß sie es gewagt hätten ihr entgegenzulaufen oder zum Abschied zu winken. Manchmal kam sie in die Kinderstube hinauf und ging dort, eingehüllt in ihre raschelnden Kleider und in eine große Parfümwolke, wie eine fremde Riesin hin und her. Heutzutage, unter dem Gebot umfassender Gleichartigkeit, würden wir das anstandslos hinnehmen, seinerzeit konnte man sich nichts anderes denken als einen Rollentausch zwischen den Ehepartnern, und tatsächlich hatte der Gatte, ein angeheirateter Vetter von bedeutungsloser wenn nicht gar verächtlicher Gestalt, dem mächtigen Format und der furchteinflößenden Büste seiner Gemahlin nichts entgegenzusetzen. Für Edward aber war die Wirkung der Mutter so fatal wie die des Vaters für Kafka.
Angesichts der allgemeinen Mütterarmut kann man Austerlitz schon fast als das Mütterbuch des Dichters ansehen. Der Titelheld bringt es gleich auf drei, wenn nicht vier Mütter. Gwendolyn, die Frau des Predigers in Bala, war ständig mit ihrem Haushalt beschäftigt, mit Abstauben und dem Abwischen der Fliesen, mit der Kochwäsche und der Zubereitung der mageren Mahlzeiten. Zu ihrem Ziehkind hat sie kein Verhältnis, nicht aus bösem Herzen, sondern aus Hilflosigkeit. Einmal, als sie ihn unter der Türe stehen sah, erhob sie sich und fuhr ihm im Herausgehen mit den Fingern durchs Haar, das einzige Mal, daß dies geschehen ist. In Andromeda Logde dann erlebt Austerlitz die ungetrübte Gemeinschaft zwischen Adela Fitzpatrick und ihrem Sohn Gerald, die sich in dieser Form wohl nur nach dem Tod des Vaters entwickeln konnte. Austerlitz wird in diese Mutter-Kind-Gemeinschaft einbezogen, älter als Gerald und nur wenig jünger als Adela, wie er ist, aber mit einem gewissen, wenn man so sagen darf, inzestuösen Einschlag. Was Agata, seine leibliche Mutter anbelangt, so entsann Austerlitz sich, von einem unbekannten Kummer erfüllt gewesen zu sein, als er, weit jenseits der Schlafenszeit, die Augen im Dunkeln weit offen, auf die Viertelstundenschläge der Turmuhren gehorcht und gewartet hatte, bis Agata nach Hause kam, bis er den Wagen, der sie aus der anderen Welt zurückbrachte, vor dem Haustor anhalten hörte, sie endlich ins Zimmer trat und zu ihm sich niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfum und Staub gemischten Theatergeruch: une scène Proustienne, allerdings ohne die Hysterie des kleinen Marcel, die hatte Jacquot auch nicht nötig, stand im doch die ganze Zeit mit Vera eine fast gleichwertige Zweitmutter zur Verfügung. Es ist freilich nur ein spätes Erinnerungsbild an eine, die ihm schon bald so gründlich genommen wurde, daß für lange Zeit auch die Erinnerung an sie verloren war. Für Selysses stellt sich die Erinnerung auf ganz andere Weise ein. In Rovereto steigt eine alte Tirolerin in den Zug ein mit einer aus Lederflecken zusammengenähten Einkaufstasche. Sie ist in Begleitung ihres vielleicht vierzigjährigen Sohnes. Über die Maßen dankbar ist er den beiden, als sie, obschon der Waggon ganz leer ist, sich hereinsetzen zu ihm. Hin und wieder ergreift den Sohn ein Krampf in seiner Brust. Die Mutter macht ihm dann zur Beruhigung einige Zeichen in die Fläche seiner linken, wie ein unbeschriebenes Blatt offen in ihrem Schoß liegenden Hand. Als sei er der nur um einige Jahre jüngere Bruder des Umsorgten, begibt auch Selysses sich heimlich in den mütterlichen Schutz: nach und nach wird es ihm besser.

Das kleine Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Zwar wendet das Interesse sich sogleich ab von der Gottesmutter und hin zu den Heiligen Antonius und Georg mit dem Strohhut, immerhin aber wird sie nicht weggeschnitten, so wie bei der Betrachtung des Giottobildes in Padua das eigentliche Sujet, die Beweinung Christi, weggeschnitten ist und nur die in der oberen Bildhälfte segelnden Engel Beachtung finden. Es könnte scheinen, der Ecclesia Catholica sei dank der ihre Geschichte begleitenden zahllosen Madonnendarstellungen die Kontrolle über die Glaubensinhalte und Dogmen ein wenig entglitten, zieht doch regelmäßig die Frauengestalt größere Aufmerksamkeit auf sich als das nicht selten zu einem fragwürdigen Wurm geschrumpfte Jesuskind. Als Jungfrau ist die Madonna gewissermaßen auch befreit von der Mutterschaft üblicher Art. Die Jungfrauengestalt schießt über das ihr zugedachte Ziel hinaus und übertrifft im Herzen der Gläubigen schließlich noch die Heiligkeit der Heiligsten Dreifaltigkeit. Zugegebenermaßen sind die Geheimnisse der Christenlehre nicht leicht zu ergründen, und es ist mühsam, sich zurechtzufinden in der christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere in der schwierigen Sache der heiligen Trinität. Leicht und erholsam ist hingegen die träumerische Betrachtung eines Madonnenbildes. Dem nachgebend gerät das Christentum mit der Beförderung einer Frau in die obersten Ränge des Götterhimmels in großen Abstand zu den anderen abrahamitischen Religionen, mit unabsehbaren Folgen, die hier außer acht bleiben müssen. In Raphaels sixtinischen Darstellung aber, dem wohl bekanntesten Madonnenbild, ist das Gesicht des Kindes nicht weniger ausdrucksstark als das der Mutter. Etwas herzbewegend Weltliches geht von ihm aus, als sei es der heilige Georg im Kleinkindalter oder der kleine Gerald auf dem Arm seiner Mutter Adela. Wenn Selysses bei der Betrachtung des Pisanellobildes ähnliche Gedanken bewegt haben sollten, so hat er sie verschwiegen.

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