Samstag, 9. August 2014

Lebendige Philosophie

Stultitiae vituperatio

Die Philosophie nahm ihren Beginn nicht in Seminarräumen, sondern unter freiem Himmel, vorzugweise dem über Athen. Nicht wenige der frühen Vertreter des Fachs waren Exzentriker, denen man die Liebe zur Weisheit auf den ersten Blick nicht ansah, man denke etwa an Diogenes. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu begrüßen, wenn Selysses die Ohren für philosophische Einsichten auch an Orten öffnet, wo man sie nicht ohne weiteres erwarten kann. Ein Dutzend Sandler waren es im Innsbrucker Bahnhof und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Verbunden untereinander durch die weit über die Landesgrenzen hinaus für ihren Extremismus bekannte Tiroler Trunksucht, verbreiteten sich diese teils kaum erst aus dem bürgerlichen Leben ausgeschiedenen, teils ganz und gar zerrütteten Tiroler Sandler, die durch die Bank einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische hatten, über das Tagesgeschehen sowohl als über den Grund aller Dinge, wobei es regelmäßig gerade denjenigen, die besonders lauthals das Wort ergriffen, mitten im Satz die Rede verschlug oder aber sie winkten voller Verachtung ab, weil sie den Gedanken, den sie gerade noch im Kopf gehabt hatten, nicht mehr in Worte fassen konnten. Einen Zug ins Philosophische, ja sogar ins Theologische: auf beruhigende Art gilt unter den Sandlern noch die gute Ordnung und Hierarchie der Philosophia ancilla teologiae. Die Inhalte ihres Denkens lassen sich leider nicht erörtern, da die Fähigkeit zur verständlichen Formulierung der Lehrsätze den destruktiven Folgen des exzessiven Lebensstils der Weisheitsfreunde zum Opfer gefallen ist. Diogenes und seinesgleichen hatten bei aller Bohème das Überschreiten dieser für die Philosophie essentiellen Grenze zu vermeiden gewußt. Immerhin läßt die Verbindung des Alltagsgeschehen mit dem Grund der Dinge auf eine praktische, angewandte Philosophie schließen, der es deswegen aber nicht an Tiefgang fehlen muß.
Wenn, wofür einiges spricht, die Dummheit der anderen ein wichtiger Punkt ist in den Erörterungen der Sandler, ergäbe sich eine Brücke zum ansonsten ganz anders gelagerten Fall der als Saaleschifferin getarnten Philosophin Güpatia. Selysses besteigt das am Ufer liegende Boot, in dem die Bootsführerin bislang vergebens auf einen Passagier gewartet hatte. Diese Dame stammte aus Bergama im einstmals hellenischen Teil der Türkei und diente bereits seit einer Reihe von Jahren bei der Kissinger Flußschiffahrt. Es zeigte sich bald, daß die Fährfrau das Boot auf dem kleinen Fluß nicht nur bestens zu manövrieren verstand, sondern daß sie darüber hinaus eine Person war, die durchaus Bedenkenswertes über den Lauf der Welt zu äußern hatte. Von dieser ihrer kritischen Philosophie gab sie mir einige äußerst eindrucksvolle Proben, die alle in der von ihr mehrmals wiederholten These gipfelten, daß nichts so unendlich und so gefährlich sei wie die Dummheit. Der Einfluß Einsteins und Kants ist unverkennbar. Einstein: Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Das Theorem der unendliche Dummheit, wirft, so eingängig es auf den ersten Blick scheint, eine Reihe schwerwiegender philosophischer Fragen auf. Wie kann, so die erste Frage, ein endliches Wesen wie der Mensch Unendliches in sich tragen. Wie, so eine zweite Frage, ist die Unendlichkeit der Dummheit zu bewerten, nachdem die Vernunft sich als allzu endlich erwiesen und den philosophischen Stoßseufzer: Nie wieder Vernunft! provoziert hat. Sollte gar das Heil nicht von der Vernunft, sondern von der Dummheit zu erwarten sein? Immerhin, Erasmus darf in diesem Kontext nicht fehlen, ist ihr philosophischer Lobpreis längst schon verfaßt worden. Bei Kant hatte es noch geheißen: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Wie ist es zu bewerten, so die dritte Frage, daß die unendliche Dummheit offenbar die ursprünglich von der ehernen Moral besetzte Stelle eingenommen hat; oder war das eine schon immer das andere, Moral so gefährlich wie Dummheit? Leider hat Selysses es versäumt, die Flußphilosophin mit diesen und anderen Fragen zu konfrontieren. Die Ausführungen der Schifferin seien bei ihm auf Verständnis gestoßen, heißt es, offenbar aber nicht auf uneingeschränkte Zustimmung. Seine Vorbehalte und weiterführenden Gedanken behält er für sich. Aus unserer Sicht wäre anzuführen, daß der Mensch das einzige Lebewesen ist, dem ernstlich der Vorwurf der Dummheit gemacht wird, bei Zecken, Raben, Katzen und Bonobos würde dieser Vorwurf ersichtlich ins Leere laufen. Vielleicht hat sich der Mensch mit der Selbstkategorisierung als Homo sapiens schlicht und einfach übernommen, und die Rüge der Dummheit - nicht anstelle ihres Lobs, sondern anstelle der neutralen Betrachtung menschlicher Begrenztheit - ist nichts als der Katzenjammer nach dem Fest.

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