Freitag, 22. August 2014

Franken

Land und Leute

Die aus Deutschland Ausgewanderten haben, sieht man ab von der von schwerem Heimweh geplagten Tante Theres, wenig Neigung in das alte Land der Väter, hen wlad fy nhadau, zurückzukehren. Bereyter, der die Rückkehr wagt, bekommt sie aus nur zu verständlichen Gründen nicht gut. Selysses unterhält zu seiner engeren Heimat im Süden Deutschlands, nahe der österreichischen Grenze, ein zwiespältiges Verhältnis. Den Norden nimmt er in der Prosa so gut wie nicht zur Kenntnis, in gebundener Sprache übernachtet er auch schon einmal an einem so verlorenen Ort wie Hannover. Die dunkelste Gegend aber, weder Norden noch tiefer Süden, ist offenbar das Land der Franken.

Austerlitz, dem Deutschland zuvor fremder gewesen ist als Afghanistan oder Paraguay, betritt deutschen Boden erstmalig im mittelfränkischen Nürnberg, zuvor war er im Zug, von Prag kommend, über den deutschen Boden in gehörigem Abstand nur dahingeglitten. Bei seiner Exkursion in die Nürnberger Innenstadt sticht ihm die die große Zahl grauer, brauner und grüner Jägermäntel und Hüte in die Augen, zweckmäßig und solide waren die Nürnberger Fußgänger gekleidet. Länger in die Gesichter zu schauen, scheute er sich. An den Fassaden zu beiden Seiten der Straße, selbst an den ihrem Stil nach älteren, war nirgends, weder an den Eckkanten, noch an den Giebeln, Fensterstöcken und Gesimsen eine krumme Linie zu erkennen oder sonst eine Spur der vergangenen Zeit. Hoch über den Hausdächern war die Burg zu sehen, irgendwie verkleinert, im Briefmarkenformat sozusagen. Lange ist er wie mit benommenen Blicken gestanden am Rand des ohne Unterbrechung an ihm vorüberziehenden Volks der Deutschen. Schließlich hat eine ältere Frau, die ihn wohl wegen des alten Rucksacks für einen Obdachlosen gehalten hat, mit gichtigen Fingern aus ihrer Börse ein Markstück hervorgeholt und ihm vorsichtig als ein Almosen überreicht. Bis zur Abfahrt des Zuges hat er die mit dem Kopf des Kanzlers Adenauer geprägte Münze in der Hand gehalten. Vom Reichparteitagsgelände her aber war wie ein dumpfes Echo aus der Tiefe der Zeit die brausende Begeisterung des damals hier zusammengeführten Volkes zu hören.
Selysses steuert in einem Zug, der, neben der Lokomotive, nur aus einem einzigen Wagen bestand, das unterfränkischen Kissingen an. In einem Zug dieser Güteklasse kann man kaum Fernreisende, sondern ganz überwiegend nur Einheimische, also Franken vermuten. Ihm gegenüber sitzt der wohl übelste Patron, der uns im ganzen Prosawerk begegnet. In einem fort wälzte seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum. Die Beine gespreizt saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose. Ich hätte nicht zu sagen gewußt, ob die Körper- und Geistesdeformation meines Mitreisenden ihre Ursache hatte in einer langen psychiatrischen Internierung, in einer angeborenen Debilität oder allein im Biertrinken und Brotzeitmachen. Kaum weniger sagt dem Dichter, generell älteren Damen aus dem Volk wenig zugetan, die nur wenig entfernter sitzende alte Frau zu, die mit ihrem Federmesser, das sie stets aufgeklappt in der Hand behielt, Schnitz um Schnitz ihren Apfel zerteilte, die abgeschnittenen Stücke zerkiefelte und die Schale in ein Papiertuch spuckte, das sie auf dem Schoß liegen hatte. In Kissingen erwartet ihn dann eine Empfangsdame, die etwas von einer Oberin an sich hatte, und ihn maß mit ihren Blicken, als befürchte sie von ihm einen Hausfriedensbruch, und schließlich trifft er auf das ebenfalls in dem Hotel eingekehrte gespenstische alte Ehepaar, das ihn mit einem Ausdruck unverhohlener Feindseligkeit, wo nicht gar des Entsetzens anstarrte. Die Toten sind nicht besser als die Lebenden, im Nachruf auf den Metzgermeister Michael Schultheis in der Saale-Zeitung heißt es, er habe sich großer Beliebtheit erfreut, sei dem Raucherclub Blaue Wolke und der Reservistenkameradschaft eng verbunden gewesen und habe seine Freizeit im wesentlichen seinem treuen Schäferhund Prinz gewidmet. Im Rathaus des Kurbads stößt Selysses nach längerem Suchen auf einen schreckhaften Beamten, der ihm, nachdem er etwas entgeistert ihn angehört hatte, beschreibt, wo die alte von den Deutschen zerstörte Synagoge gestanden und wo der jüdische Friedhof zu finden war. Hier, auf dem Friedhof, stößt Selysses auf die Namen der wahren Bewohner der fränkischen Kleinstadt: Wertheimer, Friedländer, Arnsberg, Grunwald, Leuthold, Blumenthal - und es gab ihm den Gedanken ein, daß die Deutschen den Juden vielleicht nichts so sehr mißgönnt hatten als ihre schönen, mit dem Land und der Sprache, in der sie lebten, so sehr verbundenen Namen. Unter den Lebenden bewegt sich der Dichter wie in einem Reich der Toten, auf dem Totenacker wie unter Lebenden.

Unter den im biologischen Sinne Lebenden des Frankenlandes findet nur die Saaleschifferin Gnade, und die stammt bezeichnenderweise aus der Türkei. Sie diente bereits seit einer Reihe von Jahren bei der Kissinger Flußschiffahrt. Es zeigte sich bald, daß die Fährfrau das Boot auf dem kleinen Fluß nicht nur bestens zu manövrieren verstand, sondern daß sie darüber hinaus eine Person war, die durchaus Bedenkenswertes über den Lauf der Welt zu äußern hatte. Von dieser ihrer kritischen Philosophie gab sie einige äußerst eindrucksvolle Proben, die alle in der von ihr mehrmals wiederholten These gipfelten, daß nichts so unendlich und so gefährlich sei wie die Dummheit. Diese Ausführungen stoßen bei Selysses durchaus auf Verständnis, ein versöhnlicher Ausklang des Besuchs in Unterfranken.

All das ist weit entfernt von dem, was der Dichter, befragt zu den Franken, gesprächsweise geäußert hätte. Offenkundig läßt er ihnen im Prosawerk ebensowenig Gerechtigkeit widerfahren wie den Bewohnern Brüssels, die ihm in der Mehrzahl als verwachsen und debil erscheinen. Die poetischen Verhältnisse ähneln den alttestamentarischen, die Kinder müssen herhalten für die Verbrechen der Eltern. Glücklich schätzen können sich die Leser aus nicht ausdrücklich angefeindeten Gegenden und Orten wie dem ostwestfälischen Bielefeld oder dem rheinischen Bonn. Zu Bonn hat der Dichter gar ein sentimentales Verhältnis, ist hier doch die Winterkönigin, die ihn zutiefst beeindruckt und die er dann nie wiedergesehen hat, aus dem Zug gestiegen.

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