Donnerstag, 3. Juli 2014

Schwermut

A tendency towards acedia

In einem Aufsatz zur Neuauflage der Ausgewanderten heißt es: W.G. Sebald erzählt mit erbarmungsloser Obsession von nichts anderem als diesem mörderischen 20. Jahrhundert. - Bei genauerem Hinsehen wagt er sich allerdings, auch in den Ausgewanderten, mehr noch in anderen Büchern, bis ins mörderische 19. Jahrhundert und noch weiter zurück. Begonnen hat der Dichter mit der Gestalt Grünewalds und einem erbarmungslosen Blick ins blutige Mittelalter. Und weiter: Immer suchen Sebalds Figuren nach Form, aber es ist, als grabe die Schwermut jene Kraft ab, die die Entropie zu stoppen vermöchte. Die Melancholie ist ihrerseits keine typische Erscheinung des 20. Jahrhunderts, auch wenn Alain Ehrenberg den Fortschritt, auf den die Neuzeit so stolz ist, für das vergangene Jahrhundert als den Fortschritt von der Neurose zur Depression beschrieben hat. Dennoch, bereits die beiden vortrefflichsten Ritter der Tafelrunde, Trystan fab Tallwch und Lawnslot y Llyn, litten unter bedrückender Schwermut. Beide waren von Haus aus ebenso untröstlich wie unbesiegbar, beide waren zu ihrem Kummer und ihrer Scham die ehebrecherischen Geliebten einer Königin, Esyllt im einen und Gwenhwyfar im anderen Fall. Dabei war Trystans Lage weniger verzweifelt, war Esyllt doch die Gemahlin des verachtenswerten Königs March, das sündhafte, zudem einem Zaubertrank geschuldete Tun also in gewissem Maße entschuldbar; Gwenhwyfar dagegen war die Gemahlin des bewunderten und geliebten Königs Arthur, bewundert und geliebt nicht zuletzt von Lawnslot. - In den Einzelheiten folgen wir der verläßlichsten Fassung der Artussage, nämlich Thomas Bergers Arthur Rex.
Bemerkenswert ist das enge Band, das Melancholie und Perfektion umschließt. Gwalchmai hat im ritterlichen Kampf gegen Trystan oder Lawnslot, die so untröstlichen wie perfekten Vertreter ihres Standes, keine Chance, von Cei ganz zu schweigen. Schon weit vor der Zeit der Ritter sah Theophrast die Melancholie eng mit der Genialität verknüpft, und ein Reim wird in jedem Fall daraus, wenn ein Dichter sich der Angelegenheit annimmt. Auch Ijoma Mangold, der Verfasser des Aufsatzes, stellt fest: Die einzige Form, die, anders als die Form der Figuren, als ein kontrafaktisches Trotzdem nicht zerbricht, ist die des Sebaldschen Erzählens. Und er fährt fort: Sebald ist der Dichter der Untröstlichkeit, seine Literatur ein Requiem, die Toten sind seine wahren Adressaten. In der Summe also erbarmungslose Obsession, mörderisches Jahrhundert, Untröstlichkeit, Requiem für die Toten: da fragt sich, wie Sebald, wenn auch weit von Bestsellerzahlen entfernt, dann doch die nicht geringe Zahl von Lesern auch außerhalb des Lagers der Hardcoremasochisten finden konnte, die er gefunden hat, anders gefragt, worin besteht das Besondere dieses Erzählens, das die Lektüre ungeachtet der andauernden Beschreibung des Unglücks so verlockend macht?

Thomas Berger bewahrt in Arthur Rex die schwermütigen Ritter der Tafelrunde, ebenso wie die robusteren, vor dem Spott der Neuzeit, indem er sie selbst diesem Spott in recht hochdosierter Form aussetzt und sie, denen seine Bewunderung und seine Liebe gilt, damit immunisiert. Ist das bei Sebald ganz anders, unterläuft er nicht seinerseits die Melancholie, ist nicht auch bei ihm der schwermütige Blick immer mit einem Lächeln versehen? Der erste Schwermütige, der Selysses als Kind in der Ortschaft W. begegnet, ist der Dr. Rambousek. Seine verhangenen, fremdländisch wirkenden und wohl am besten mit dem Wort levantinisch zu bezeichnenden Gesichtszüge, die allzeit über seine großen dunklen Augen zur Hälfte gesenkten Lider, und sein ganzer irgendwie abgewandter Habitus ließen wenig Zweifel daran, daß er zu den von Haus aus Untröstlichen gerechnet werden mußte. Die schwarze Tinte der Melancholie kann sich aber nicht über das ganze Blatt ergießen, da Rambousek unmittelbar seinem sicher schon auf die Siebzig zugehenden Kollegen Dr. Piazolo kontrastiert wird. Den sah man zu jeder Tages- und Abendstunde auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Piazolo wiederum hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich: Ein Rauhreitergespann, das besser in die wüste Zeit des Uthr Bendragon als in die geläuterte und melancholiegeneigte Zeit des Brenin Arthur gepaßt hätte.

Sie gleiche, zwischen ihren Papieren, dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie, läßt Selysses Janine Rosalind Dakyns wissen, die Papierlandschaft in ihrem Arbeitszimmer aber hatte er zuvor mit Zuneigung und liebevollem Spott beschrieben, auch der Teppich war seit langem schon unter mehreren Lagen Papier verschwunden, ja das Papier hatte angefangen, vom Boden, auf den es fortwährend aus halber Höhe hinabsank, wieder die Wände emporzusteigen. Nicht zuletzt aber trifft der gutmütige Spott den melancholischen Erzähler selbst, Selysses also. Um über eine besonders ungute Zeit der Schwermut hinwegzukommen, begibt er sich auf eine seltsame Queste nach Oberitalien. Seine Niederlagen erlebt er in Hotels und Restaurants: Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meistens wahllos einfach irgendwo hinein und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir in keiner Weise zusagendes Gericht. Die Siege liegen auf der gleichen Ebene: In der Goldenen Taube war wider alles Erwarten ein ihm in jeder Hinsicht aufs beste zusagendes Zimmer zu haben und er sieht sich, daran gewöhnt zumeist schlecht bedient zu werden, mit der ausgesuchtesten Zuvorkommenheit behandelt. Die Nachtruhe, die er unter dem Dach der Goldenen Taube genießt, grenzt, wie das anschließende, ihm als würdevoll in Erinnerung gebliebene Frühstück, ans Wunderbare. Im Bahnhofsbuffet Venedig wird ihm nach langem und schweren Kampf ein Cappuccino serviert, und einen Augenblick war ihm zumute, als hätte er mit dieser Auszeichnung den bisher bedeutendsten Sieg seines Lebens errungen. Aber auch einen wahren ritterlichen Dreikampf gilt es zu bestehen. Indem er sich auf dem Absatz drehend die Tasche von der Schulter schwang und in die beiden Angreifer hineinfahren ließ, gelang es ihm freizukommen und sich mit dem Rücken gegen einen der Pfeiler des Türbogens zu stellen. Nicht einmal das mit den melancholischen Rittern offenbar unlöslich verbundene ehebrecherische Motiv fehlt. Als er, die Bescheinigung in der Hand, mit Luciana wieder im Auto saß, war es ihm, als seien sie von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wo sie wollten.
Auch in den Ausgewanderten, in denen der Erzähler naturgemäß nicht in vergleichbarer Weise im Vordergrund steht, fehlt diese Tonlage nicht. In Manchester wird Selysses allein von dem außerordentlich sinnreichen mechanischen Gerät der Teas maid am Leben erhalten. Nach dem gescheiterten Versuch, sich in einen Hemingwayhelden zu verwandeln, verliert er den Glauben an Amerika und findet ihn wieder auf dem Highway. Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand ich mich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herzgeschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen. Am Ende der Reise erweist sich das Hotel als ein von einem verwachsenen Portier bewachtes Zauberschloß, eine wunderbare Mahagonistiege vermittelte das Gefühl, als schwebe man gleichsam hinauf. Öffnete man eines der hohen Fenster des geräumigen Zimmers, so schaute man mitten hinein in den wogenden Schatten einer aus Tiefe heraufragenden Zypresse. Das beständige Rauschen rührte aber nicht von dem Wind in den in den Bäumen, sondern von den in geringer Entfernung niedergehenden Ithaca Falls.

Es kann keine Rede sein von ufer- und freudloser Schwermut, von Grauen allenthalben, von einem Gespräch nur mit den Toten. Wer, vom Zufall geleitet, die Sebaldlektüre in Andromeda Lodge beginnen sollte, wird glauben, er sei unvermittelt in den dritten Teil der Divina Commedia geraten. Gottfried Keller im Auge spricht Sebald von einer Prosa, die bedingungslos allem Lebendigen zugetan ist, die ihre staunenswertesten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlangführt. Wer sich dahinbewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, der spürt immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Tageslicht manchmal schon schwindet vor den weit draußen hereinziehenden Schatten und oft schon erlischt unter dem Anhauch des Todes. Die schöne Bahn der Sätze zum Begehen entlang den Rändern der Ewigkeit, zur Linken das frohe Leben, zur Rechten der schwarze Tod - das trifft auf beide, Keller und Sebald, zu, bei Sebald sieht man vielleicht die hereinziehenden Schatten vor allem anderen, sie können uns aber nicht die allem Lebendigen zugetane Weise verdecken. Es fragt sich, ob es überhaupt lohnt, Bücher zu lesen, die dieser Beschreibung nicht auf die eine oder andere Weise entsprechen, vorzugsweise aber in der Gestalt der Perfektion.

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