Montag, 2. Juni 2014

Agoraphobie

Öffentliche Plätze

forumque vitat

Städtische Plätze sind im Gespräch, der Tahrir, der Taksim, der Maidan. Bei einigen Kommentatoren* rufen diese Namen das Bild einer als erfüllbar erscheinenden Sehnsucht hervor, der Sehnsucht nach, wie sie es sehen, gelebter, greifbarer Demokratie. Zunächst, so die gedachte Abfolge, wird über Barrikaden hinweg grob für Ordnung und das Einschlagen des rechten Wegs gesorgt, dann aber treffen sich die Menschen auf dem Platz und, zumal bei schlechtem Wetter, in den angrenzenden Gebäuden und handeln miteinander das künftige und in jedem Fall friedliche Zusammenleben aus. Als sich die Dinge weit entfernt auf dem Platz des himmlischen Friedens abspielten, blieben diese Erwartungen noch aus, aber jetzt, rund ums Mittelmeer, in der demokratischen Aura Europas, kann es eigentlich nur so oder so ähnlich ablaufen. Tatsächlich aber ist es bislang nirgendwo so abgelaufen. Am Taksim hat die Neuordnung nicht stattgefunden, am Tahrir schon eher, aber vom anschließenden friedlichen Aushandeln des Zusammenlebens kann nicht die Rede sein, und am Maidan steckt die Zukunft noch in der Gegenwart fest mit eher ungünstiger Prognose.

Die Agora der Polis, die als Wunschbild und Utopie im Hintergrund steht, war Markt- und Versammlungsplatz der Bürger, niemand wird behaupten, daß sich das relevante Marktgeschehen in modernen Gesellschaften noch auf offenen Plätzen abspielt, der Amazonmarktplatz mit seinen riesigen, nicht einsehbaren und für das Publikum gesperrten Lagerhäusern kommt der Wahrheit schon näher. Gleichwohl ist der Besuch eines offenen Marktes auch heute noch für viele eine besondere Lust. Je mehr in der modernen Gesellschaft die Bedeutung von Kommunikation unter Anwesenden schwindet, desto stärker wird das als Verlust empfunden. Für ein erstes grobes, gewaltsames Zurechtrücken der politischen Verhältnisse aber scheint leibliche Präsenz, vorzugsweise auf Plätzen, in der Tat unabdingbar. An jedem Wochenende, auf dem Weg zur Besetzung der Stadien und wieder zurück, wird ohne erkennbaren Anlaß oder Ziel gewaltsam geübt, vermutlich, um gerüstet zu sein für den Ernstfall, der nicht ausbleiben wird. Der Konflikt benötigt die Plätze, der Konsens nicht. Hinter allen idealen Demokratievorstellungen steht die Annahme, die Welt liege den Menschen entscheidungsfähig zu Füßen und alle müßten sich nur auf die eine oder andere Weise einig werden, wie entschieden werden soll. Wenn der Realitätsgehalt dieser Vorstellung schon gering ist, so bringt ihn die Rückprojektion auf idealisierte Polisverhältnisse vollends zum Schwinden: und bleibt doch ein Licht in der Finsternis. Für die Dichter ist der Realitätsgehalt eines Sehnsuchtsbildes professionsbedingt ohnehin von geringer Bedeutung.
Sebald zeigt uns Gottfried Keller unterwegs zum öffentlichen Platz mit dem Ziel, die Dinge zurechtzurücken. Der kleine Mann, der in der Mitte die Trommel rührt, das ist der Schweizer Dichter als seltsam ziviler Tambour mit Zylinderhut. Überhaupt hat die Szene etwas auffallend Zivilistisches und Zugeknöpftes. Man kann sich schwerlich denken, daß der Dichter und seine Begleiter jetzt gleich auf die Barrikaden gehen. Da sind die Erwartungen gedämpft, das Komödiantische des Auftritts nimmt gewissermaßen das Scheitern der Revolution oder Neuordnung schon vorweg. Ein gutes halbes Jahrhundert später ist die Mathild Seelos unmittelbar vor dem ersten Krieg in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Was ihr im einzelnen auf den Plätzen in München widerfahren ist, wissen wir nicht. Jedenfalls hat sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt. Wiederum knapp zwanzig Jahre später erhalten wir einen weitaus genaueren Einblick in das Geschehen auf den Straßen und Plätze. Aus der Münchner Zeit nach 1933 ist kaum etwas anderes erinnerlich als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen der inneren Stadt oder die sogenannte Blutfahne. Von Mal zu Mal hat bei den einander ablösenden Versammlungen und Aufmärschen die Anzahl der verschiedenen Uniformen und Abzeichen zugenommen. Es war, als entfalte sich unmittelbar vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der anderen.

Der Dichter nimmt, was die öffentlichen Plätze anbelangt, die seiner Profession erteilte Lizenz zum freien Umgang mit Realitätsgehalten kaum in Anspruch. Bei unverkennbarer Sympathie für Gottfried Keller und Mathild Seelos hat er doch klar die wahren Herren der Plätze vor Augen. Ein Platz ist kein freies Gelände, erst durch die Umbauung wird er zum Platz. Wenn der Brüsseler Justizpalast mit seinen türlosen Räume und Hallen, die nie jemand zu betreten scheint, als die ummauerte Leere das innerste Geheimnis aller sanktionierten Gewalt ist, so ist die Herrschaft auf den Plätzen Demonstration ihrer Reichweite einschließlich der willkürlichen Bestimmung dessen, was als Realität zu gelten hat: Auf dem Photo war die Bücherverbrennung auf dem Würzburger Residenzplatz zu sehen, offenbar aber handelte es sich um eine Fälschung, Weil man aufgrund der bereits einsetzenden Dunkelheit keine brauchbaren Photographien hatte machen können, war man kurzerhand hergegangen und hatte dem Bild irgendeiner anderen Ansammlung vor der Residenz eine mächtige Rauchfahne und einen tiefschwarzen Nachthimmel hineinkopiert. Und so, wie dieses Dokument eine Fälschung war, so war alles eine Fälschung von Anfang an; eine Fälschung, und doch grauenhaft realer als alles, was man sich als real ausdenken mochte.
Ein weiteres Bild einer Menschenansammlung auf einem Platz ist gefälscht. Die Mehrzahl der Einwohner von Desenzano hatte sich zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterversicherungsanstalt auf dem Marktplatz versammelt. Ob es sich bei dem abgebildeten Marktplatz um den in Desenzano handelt, ist unsicher, sicher ist, die Angetretenen warten nicht auf Kafka. Die Fälschung in Desenzano ist der in Würzburg gegenläufig. Dort bestimmten die Machthaber, was real ist, hier ist es ein Bild, das vor dem innerem Auge Kafkas, des Machtlosen par excellence, auftaucht, geboren aus seiner Furcht im Blickpunkt auf ihn gerichteter Augen zu stehen, und so ist das Bild falsch aber wahr. Selysses erleben wir nie unterwegs zu einer Versammlung oder zu einem Aufmarsch, angesichts seiner geringen Hoffnung auf eine gelungene Neuordnung und ein gutes Ende nicht weiter verwunderlich. Die englische Wallfahrt führt durch abgelegene Landstriche ohne städtischen Plätze. Auch wenn sie frei sind von Menschenansammlungen, scheint er die öffentlichen Plätze nicht sonderlich zu schätzen. Vor dem Wiener Rathaus sehen wir ihn in einer versteckten Ecke des Platzes, außerhalb des Blickfeldes der Passanten, mit den Dohlen und mit der weißköpfigen Amsel reden. In Venedig weist nichts darauf hin, daß er bis zum Platz San Marco vordringt. In Mailand schließlich steigt er bis auf die oberste Galerie des Doms hinauf und schaut von hoch oben auf die Piazza, wo die Menschen sich in seltsamer Neigung bewegten, als stürze ein jeder einzelne von ihnen seinem Ende entgegen. Wäre es so, müßte der Platz schon bald so menschenleer sein, daß er gefahrlos herabsteigen kann. Einerseits wird er auf der Galerie von immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen geplagt, andererseits scheint die Agoraphobie, bei der es sich bei genauerem Hinsehen um eine Anthropo-Agoraphobie handelt, ausgeglichen durch eine gewisse Höhenlust, die uns auch aus seiner Neigung zu kleinen einmotorigen Propellerflugzeugen bekannt ist.
Als erstes hat die Entwicklung von Schrift die Bedeutung der Kommunikation unter Anwesenden vermindert, dann der Buchdruck, jetzt, vermutlich ein gewaltiger Stoß, sind es die elektronischen Medien. Vermehrt werden Menschen beobachtet, die sich auch als Anwesende über die Apparate unterhalten, als seien sie Abwesende. Sebald hat sich auf die neue Entwicklung nicht eingelassen, aber auch ohne das beschwört er immer wieder das Verschwinden der Menschen in ihren Apparaten. Nirgends war ein Mensch zu erblicken, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeige brausten. Tatsächlich schien es, als habe unsere Art bereits einer neuen Platz gemacht oder als lebten wir doch zumindest in einer Form der Gefangenschaft. Auch in den Städten sind weitaus mehr Fahrzeuge als Menschen zu sehen, aus vielen städtischen Plätzen sind Parkplätze geworden. Sofern hier Kommunikation unter Anwesenden stattfindet, ist sie meistens konfliktgeladen, weil Blech auf Blech gestoßen war.

*Ausführlich FR Feuilleton 6. Mai 2014

Keine Kommentare: