Freitag, 11. April 2014

Schiphol

The Enigma of Departure

Wer die Schwindel.Gefühle als Buch der Zugfahrten und Austerlitz als Buch der Bahnhöfe liest, hat die Bücher nicht hinreichend verstanden aber auch nicht mißverstanden. Ein Buch der Luftfahrt oder der Flughäfen ist in Sebalds Werk nicht zu finden. Man stößt auf Enthusiasten des Fliegens, aber die starten mit ihren Cessnas von kleinen Flugfeldern aus. Austerlitz sucht die Bahnhöfe in London und Paris nicht nur im Rahmen konkreter Reiseabsichten auf, einen vergleichbaren Flughafenbegeher interesselosen Wohlgefallens findet man nicht. Bahnhöfe sind für Ankommende, Abreisende und Verweilende mehr oder weniger gleich, Flughäfen für Ab- und Einfliegende sehr unterschiedlich.
Vom Flughafen Newark bin ich also in Richtung Lakehurst gefahren: Abflug in Richtung USA, Flug und Ankunft sind übergangen, erst außerhalb des Flughafengeländes schaut Selysses sich um und sieht, als einzigen Eindruck vom Fliegen, über einem aufgeworfenen wahren Riesengebirge von Müll einen Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit schwerfällig in die Luft sich erheben. Viele Jahre zuvor war er, von Kloten her kommend, im Manchester sozusagen in Ungnade aus dem Flughafen entlassen worden. Die Beamten, die im Ausgang der Nacht begreiflicherweise an Langeweile litten, widmeten sich seiner Person mit einer ans Überwirkliche grenzenden Geduld und Genauigkeit. Es war bereits fünf Uhr, als er endlich ein Taxi bestieg.

Den einzigen Aufenthalt im Departurebereich erleben wir in Schiphol, er ist sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa in Szene gesetzt. In der Nacht auf Allerseelen im Flughafen von Schiphol: Schon als Kind war Selysses nichts sinnvoller erschienen als Allerheiligen und Allerseelen, die beiden Tage der Erinnerung an die Leiden der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen, als seien ihnen die Wohnungen aufgekündigt worden. Wir müssen also damit rechnen, daß wir uns in Schiphol erneut, wie schon in einem anderen Gedicht, in einer Grenzstation von Leben und Tod befinden. Die Reisenden sitzen mit neonblauen Gesichtern auf den Bänken und bald schon liegen sie in blaue Decken gehüllt da und schlafen, schlafen sie nur? Der Flugverkehr kommt zum Erliegen, die Maschinen mit ihren riesigen Leiber und Ruderflossen liegen vertäut an den Quais. Für Flugbewegungen sorgen allein noch die Spatzen, die durch die Halle schwirren. Sie ratschen laut untereinander, als sei ihnen irgend etwas nicht recht, was das sein könnte, darüber kann man sich lange Gedanken machen. Der Sprecher, der uns belehren könnte, ist nicht zu sehen, das lyrische Ich ist nicht vorhanden.

Das ändert sich grundlegend in der Prosaversion. Wir folgen Selysses, und der erlebt die Glamourwelt der Abflughalle, die er nicht mit denkbaren Vokabeln aus dem sogenannten kritischen Arsenal belegt wie Fetisch, Warenwelt oder Verdinglichung, sondern vorgeblich für bare Münze nimmt und, halb im Scherz und halb im Ernst, in einem Spiel mit dem Jenseits metaphysisch überhöht. Es ist, als befände man sich schon ein Stück jenseits der irdischen Welt. Langsam wandeln die Fluggäste durch die Hallen oder schweben, still auf den Rolltreppen stehend, ihren verschiedenen Bestimmungsorten in den Höhen, wohl die Erretteten, und Untergründen, wohl die Verdammten, entgegen. Ab und zu wird jemand von den offenbar körperlosen, engelsgleich ihre Botschaften intonierenden Stimmen der Ansagerinnen aufgerufen. Über kurz oder lang würde die Reihe an jedem der hier Versammelten sein. Tatsächlich ist die Reihe dann auch an dem in Schlaf gefallenen Selysses, aber doch auf eine recht irdische, geschäftsmäßige Art: immediate boarding at Gate C4 please.

Sebalds Prosa besteht weithin aus einer im Erzählvorgang verflüssigten Abfolge lyrischer Momente, wie sie in den einzelnen Gedichten eingefroren sind. Am Abend vor dem Abflug hatte Selysses vom Hotel aus ein Entenpaar gesehen im Schutz einer Trauerweide reglos auf der von grasgrüner Grütze überzogenen Fläche des Wassers. Mit vollkommener Klarheit war dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit: ein Bild wie geschaffen daraus ein Gedicht zu machen. Die Spatzen, die im zweiten Teil des Gedichtes das Regiment übernehmen und an die Stelle der Menschen und Flugzeuge treten, müssen in dem in der Prosa herrschenden Glanz der Abflughalle weichen, vom Flugzeug aber sieht Selysses dann herab auf eine menschenleere Welt. Ich sah den Schatten unseres Flugzeugs drunten eilends dahinlaufen über Hecken und Zäune, Pappelreihen und Kanäle. Ein Traktor kroch, wie nach der Richtschnur quer über einen bereits abgeernteten Acker. Nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen.

Drei Vorwürfe für drei mögliche Gedichte aneinandergereiht, die aber erst in der Reflexion als solche erscheinen. Es ist die Eigenart der Sebaldschen Prosa, daß sie die basale Bewegung des Erzählens durch die Wander- und Reisebewegung des Selysses verstärkt, darüber hinaus an Handlung oder gar Romanintrige wenig hinzufügt. Im Gedicht scheint es nicht so, als könne Allerseelen zu Ende gehen, als könne der Flughafen wieder erwachen, als könne es weitergehen. Weitergehen ist aber das Prinzip der Prosa, und die Vergangenheitsformen der Zeitwörter versichern uns zudem, daß es seither längst schon weitergegangen ist. Selysses schaut mit unverkennbarer Belustigung zurück auf sich selbst und sein Erleben. In der Prosa reicht sein Blick nicht weniger tief als im Gedicht und doch bleibt er flüchtig, insistiert nicht auf dem Augenblick, der nächste Augenblick wartet schon, wenn man so sagen darf.
Aus einem konventionellen Roman: In einer viereckigen Einsenkung des Bodens standen hier die Stachelbeerbüsche, Johannisbeerbüsche, Himbeerbüsche und einige Obstbäume, prall schien die Mittagssonne auf sie nieder, es duftete nach heißen Blättern und heißen Früchten. - Der Leser läßt die Abschweifung über sich ergehen, er weiß, eher über kurz als über lang wird der Autor sich wieder den handelnden Personen zuwenden, und es geht weiter mit den Geschehnissen und Verwicklungen. Bei Sebald geht es in diesem Sinne nicht weiter, der Dichter kommt nicht zur Sache, wie ein Kritiker beklagt hat. Ein Gedicht und ein üblicher Handlungsroman stehen weitgehend beziehungslos nebeneinander, eine Prosa wie diejenige Sebalds macht die Entfernung zwischen Lyrik und Prosa überhaupt erst erfaßbar.

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