Dienstag, 22. April 2014

Gartentor

Muß i denn

Thomas Glavinic zitiert in einem Nachruf auf García Márquez eine tadelnde Bemerkung Thomas Bernhards: die deutschsprachigen Schriftsteller bräuchten immer fünfzig Seiten, bis der Held zur Gartentür hinaus ist. Ganz anders, so Glavinic, sei es bei Márquez, da gebe es kein Gartentor, da sei sofort alles da, Stimmung, Licht, Farbe, Handlung, Tiefe, Poesie, Spannung. So gerne man dem beipflichten will, so wenig ist doch klar, worin die Schuld des inkriminierten Gartentors bestehen soll. Es hat nicht lange gedauert, bis Adam und Eva, beispielgebend, zum Gartentor hinaus waren, ließe sich anführen, andererseits aber benötigt Rudolf, der Protagonist in Bernhards eigenem Roman Beton, sage und schreibe hundertundsiebzig von insgesamt nur zweihundertundzwölf Seiten, bis er zu Peiskam endlich beim Gartentor hinaus und, als schon keiner mehr damit rechnet, auf dem Weg nach Palma de Mallorca ist. Von Dostojewskis voluminösen Roman Biesy ist bereits gut ein Drittel verbraucht, als wir an einer Stelle von zentraler Wichtigkeit lesen: Obojdja iswilistymi doroschkami..., also ungefähr so: Auf verschlungenen Wegen durcheilten beide den ihnen bestens bekannten Garten, bis sie endlich an die steinerne Gartenmauer kamen, um dort, unmittelbar an der Ecke, auf ein kleines Türchen zu stoßen, das hinausführte auf eine enge und dunkle Gasse. Die Tür war fast immer verschlossen, aber Aleksej Jegorowitsch hielt den Schlüssel in der Hand &c., die unheilvolle Nacht nimmt in zwei Kapiteln ihren Lauf mit all den bekannten schrecklichen Folgen. - Soweit feststellbar, hat sich Kritik an Dostojewskis Buch nie in spezifischer Weise gegen das Gartentor und sein spätes Auftauchen gerichtet.

Schauen wir nun auf das Beispiel Sebalds, so stellen wir mit einiger Verwunderung fest, daß er sich Bernhards Tadel sehr zu Herzen genommen hat und das daraus abzuleitende Gebot vorbildlich und mit einem gewissen Übereifer befolgt. Gleich zu Beginn von All'estero lesen wir, Selysses verbringe seine Tage daheim gewohnheitsmäßig mit Schreib- und Gartenarbeit, zum Gartentor aber ist er, als wir dies vernehmen, längst hinaus und bereits, weit entfernt von seinem Garten, in Wien. Das Gartentor wurde also noch vor Beginn der Erzählung passiert, besser geht es nicht, selbst García Márquez kann das allenfalls egalisieren.
 
Einem Gartentor kann man sich von zwei Seiten nähern, um den Garten zu verlassen oder um den Garten zu betreten, zum Tor hinaus, zum Tor hinein. In Verona angekommen, geht Selysses, einer alten Gewohnheit gemäß, sogleich in den Giardino Giusti. Das Tor zu diesem prachtvollen Garten wird in der Prosa nicht erwähnt, allerdings ist es auf einer beigegebenen Photographie zu sehen, und das ebenfalls abgelichtete Eintrittsbillet versichert zudem, daß der Dichter das Tor durchmessen hat: alles in allem ein geschickter Schachzug, um zu verhindern, er könne auf der sprachlichen Ebene, und allein um die geht es, zu spät an das Tor geraten und so gegen das Bernhardverdikt verstoßen; ein geschickter aber überflüssiger Schachzug: da die Gartenszene mit Ein- und Austritt insgesamt nur zwei Buchseiten beansprucht, sind die gefährlichen fünfzig Seiten ohnehin in weiter Ferne. In den weiteren Werken verschweigt Selysses einfach den Umstand, daß er erst zum Gartentor hinaus mußte, um, mit der Bahn oder mit dem Flugzeug, hierhin oder dorthin zu reisen. Dr. Selwyns Garten, den Selysses in Begleitung seiner Frau Clara gleich zu Anfang der Erzählung betritt, scheint nach allen Seiten offen und torlos zu sein und wäre insofern nicht einschlägig. Die Abbildung noch eines weiteren Gartentors, könnte man meinen, erscheint im Werk, Mme Aquavivas aber klärt uns auf, es handele um die porte de la cour de l'ancienne école in Porto Vecchio. Ist diese Auskunft aber zuverlässig, hat Mme Aquavivas sich vielleicht von äußerlichen Ähnlichkeiten und inneren Bildern irreführen lassen? Und wenn es die Schule ist, umfaßt sie nicht auch die École maternelle, zu deutsch Kindergarten? Gefahr droht jedenfalls nicht, auch hier umfaßt die ganze Erzählung nicht mehr als zwei, die Abbildung mitgezählt drei Seiten.

Bernhards Tadel lautet reformuliert als Gebot: Nähere dich einem Gartentor zügig oder gar nicht. Wenn Sebald das Gebot in aller Strenge beachtet, wird es dadurch rational oder poetologisch nicht transparenter. Es ähnelt einem Willkürgebot archaischer Religiosität wie die Einzelheiten koscherer Nahrung. Nicht auszuschließen ist aber, daß die Schönheit durch Willkür in die Welt kommt. Was ist der magische Realismus, um auf García Márquez zurückzukommen, anderes als magische Willkür. Eine der Ausgaben von Cien años de soledad bildet auf dem Umschlag ein Gartentor ab, an welcher Stelle erscheint es im Text? Bewundern müssen wir in jedem Fall Bernhard, der, kaum daß er das Gebot erlassen hat, es auch schon mit souveräner Willkür mißachtet.

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